Mit leeren Händen
Die Botschaft der Thérèse von Lisieux
Euer Leben in dem Meinen
In den letzten Lebensjahren Thérèses kann man sehen, wie sie sich ganz konkret immer mehr der Kraft Gottes öffnet, die in ihr am Werk ist - in den weiten Bereichen des Kontaktes mit ihrem Nächsten, des Apostolates und des Gebetes.
Die geheimnisvolle Tiefe der geschwisterlichen Liebe
Je mehr Thérèse das echte Antlitz Gottes entdeckt, desto besser erkennt sie das wahre Gesicht des Nächsten. Typisch! Genau 1897, in ihrem letzten Lebensjahr, am Höhepunkt ihrer Liebe zu Gott, empfängt sie die Gnade, zu verstehen, was Nächstenliebe bedeutet (C 231).
Wie es scheint, hat sie es auch vorher gut verstanden und in ihrer Gemeinschaft exemplarisch gelebt! Das gibt sie auch gerne zu: Vorher habe ich sie verstanden, das ist wahr, aber in unvollkommener Weise.
Worin besteht also die Veränderung? Nun ist Thérèse
vor allem von den Worten Jesu ergriffen: Das zweite Gebot ist dem ersten
gleich
, und liebt einander, so wie ich euch geliebt habe
(Mt 22,39 und
Joh 15,12).
So wie … immer wieder taucht der Wunsch auf, Jesus in Seiner Liebe
ähnlich zu sein … Thérèse erklärt, dass sie
aus sich selbst nie ein solches Maß an Liebe zustande bringen könnte.
Aber seit sie ihren kleinen Weg entdeckt hat, sind die Grenzen der Unmöglichkeit
durchbrochen. Sie läßt folglich Jesus in sich handeln: Ich
bin dazu nicht fähig, wirke Du es also selbst in mir, ich verlasse
mich ganz auf Dich …
Das ist die große Offenbarung dieses Jahres: Jesus selbst liebt den Nächsten in mir!
Oh! Herr, ich weiß, dass Du nichts Unmögliches befiehlst, Du kennst meine Schwachheit und meine Unvollkommenheit besser als ich, Du weißt, dass ich meine Schwestern niemals so lieben könnte, wie Du sie liebst, wenn nicht Du selbst, o mein Jesus, sie auch noch in mir liebtest. Weil Du bereit warst, mir diese Gnade zu gewähren, hast Du ein neues Gebot erlassen. - Oh! Wie liebe ich es, da es mir die Zuversicht schenkt, dass es Dein Wille ist, in mir alle zu lieben, die Du mir zu lieben befiehlst! … Ja, ich fühle es, wenn ich Liebe erweise, so handelt einzig Jesus in mir; je mehr ich mit Ihm vereint bin, desto inniger liebe ich alle meine Schwestern (C 232/233).
Thérèse ist bis zu den geheimnisvollen Tiefen
der Liebe
(C 243) vorgedrungen! Thérèse und Jesus, der den Nächsten
in ihr liebt, sind eins! Jesus ist in ihr die Seele, die sie nach außen
hin zum Ausdruck bringt!
Nicht nur Thérèse und Jesus, sondern in gleicher Weise
Jesus und der Nächste sind eins. Früher war ihre Nächstenliebe
ein kleiner Schemel, um besser an die Gottesliebe heranzukommen: Ich
bemühte mich vor allem, Gott zu lieben (C 231). Nun ist der Mensch
nicht mehr nur eine Zwischenstufe, sondern der Spiegel des Herrn. Jede
Distanz zum Nächsten ist verschwunden: sie sieht Jesus verborgen
am Grund der Seele
des Nächsten (C 236). Die Liebe von Jesus-in-ihrem-Herzen
zu Jesus-im-Herzen-des-Nächsten strömt von einem zum andern,
eine Liebe, die Thérèse und zugleich auch ihren Nächsten
weit und stark macht, eine Liebe, die von Gott kommt und zu Gott geht.
Im Manuskript C ihrer Autobiographie befindet sich eine richtige kleine
Abhandlung über die geschwisterliche Liebe, scharfsinnig und realistisch
und voll Humor und Weisheit geschrieben. Worin besteht nun für Thérèse
der Gipfel der Nächstenliebe, der vollkommenen
geschwisterlichen
Liebe?
Die vollkommene Liebe besteht darin, die Fehler der anderen zu ertragen, sich nicht über ihre Schwächen zu wundern, sich an den kleinsten Tugendakten zu erbauen, die man sie vollbringen sieht (C 232).
Es gibt nichts Positiveres und nichts Authentischeres!
Die kleine Schwester Thérèse, die sich so sehr dem Wirken
des großen Gottes in ihr überlassen hat, ist entschlossen, auf
ihre geringsten Rechte zu verzichten
! Sie betrachtet sich als die Magd,
die Sklavin der anderen
(C 240). In ihrer Gemeinschaft verzehrt sie sich
außerhalb der durch die Tagesordnung festgelegten Zeiten des Stillschweigens,
des Gebetes und der Einsamkeit im Dienst an ihrem Nächsten. Sich zu
verlieren gewährleistet ihr den größten Fortschritt in
der Liebe: denn die Liebe nährt sich von Opfern, je mehr sich die
Seele jede natürliche Befriedigung versagt, umso stärker und
uneigennütziger wird ihre Zärtlichkeit (C 248/249).
Denn die wahre Liebe findet sogleich den ihr angemessenen Ausdruck:
Manchmal ist man infolge der übernommenen Aufträge gezwungen, einen Dienst zu verweigern, aber wenn die Liebe in der Seele tiefe Wurzeln geschlagen hat, so tritt sie nach außen in Erscheinung. Es gibt eine so anmutige Art abzuschlagen, was man nicht geben kann, dass die Weigerung ebensolche Freude bereitet wie die Gabe (C 242).
Sie versucht also, aus ihrem Leben und dem der anderen ein langes Fest
zu machen! Mit ganz kleinen Mitteln … Durch ihr Mienenspiel, das Spiel
ihrer Hände, ihrer Worte, ihrer Gedanken … Ich will zu jedem freundlich
sein (und ganz besonders zu den unfreundlichsten Schwestern), um Jesus
zu erfreuen und um den Rat zu befolgen, den Er gegeben hat … Wenn ihr
ein Gastmahl gebt, so ladet die Armen ein
(Lk 14,12-13) … Welches Festmahl
könnte denn eine Karmelitin ihren Mitschwestern bieten, wenn nicht
ein geistliches, aus freundlicher und fröhlicher Liebe? (C 260).
Thérèse ist schon schwer krank, als sie diese Zeilen schreibt. Aber wohin sie kommt, da geht die Sonne auf! Am 8. Juli 1897 geht sie endgültig in die Krankenwärterei hinunter. Man bereitet das Nötige für die Krankensalbung vor, die damals Zeichen für den nahe bevorstehenden Tod war … Im Kloster ist die Stimmung traurig. Ihre Schwester Agnès notiert am 9. Juli, vielleicht am selben Tag, als Thérèse die letzten Worte ihrer Autobiographie schreibt, folgendes:
Man hatte in ihrer Krankenzelle eine Maus gefangen. Sie machte eine ganze Geschichte für uns daraus, bat uns, ihr die verletzte Maus zu bringen, sie würde sie neben sich ins Bett legen und vom Doktor abhorchen lassen. Wir lachten herzlich, und sie freute sich, dass sie uns zerstreut hatte (IGL 90).
Thérèse war in ihrer Gemeinschaft von jeher sehr beliebt. Das geht aus dem hervor, was sie nicht ohne einen Schimmer von Diplomatie an Marie de Gonzague schreibt:
Hier lebe ich unbelastet von aller Sorge um die Dinge dieser armseligen Welt; ich brauche nur die angenehme und leichte Aufgabe zu erfüllen, die Sie mir anvertraut haben. Hier wird mir Ihre mütterliche Fürsorge im Übermaß zuteil, ich fühle die Armut nicht, denn nie hat mir etwas gefehlt. Vor allem aber werde ich hier geliebt, von Ihnen und von allen Schwestern, und diese Zuneigung tut mir sehr wohl. Darum träume ich von einem Kloster, wo ich unbekannt wäre, wo ich Armut, Mangel an Zuneigung, kurz die Verbannung des Herzens erleiden müßte (C 227/228).
Die Seele des Apostolats
Auch in ihrem Apostolat sucht Thérèse direkt beim Herrn ihre Inspiration, die Kraft und den lebendigen Atem des Heiligen Geistes, der die Saat zum Sprießen bringt.
Denn Thérèse hat ein Apostolat ausgeübt! Dazu muss man nicht durchs Land ziehen. Diese Karmelitin, die Pius XI. zur Patronin der Weltmission ernannt hat und die damit denselben Titel wie Franz Xaver trägt, ist auch die nicht ernannte Patronin des Apostolates in deinem Heim, dem begrenzten Ort, wo du wohnst, deiner alltäglichen Umgebung.
Für dich heißt diese Umgebung wahrscheinlich Zuhause, Familie, deine Nachbarn, deine Kollegen. Für Thérèse waren das ihre fünfundzwanzig Schwestern, die kleine Gruppe ihrer Briefpartner, die Mitglieder ihrer Familie und die Freunde, die manchmal zu ihr ins Sprechzimmer kamen, der Seelsorger, bei dem sie beichten ging, und der Arzt, der sie in der Krankenwärterei besuchte. Ihre Liebe zu Jesus und ihr Eifer für das Reich des Vaters lassen sie die verschiedenen Gesichter ihres Apostolates erkennen: ihr Glaubenszeugnis, eine frohe Güte, aufmerksames Zuhören, das richtige Wort im rechten Augenblick, ein aufmunternder Rat in einem Brief …
In ihrem eigenen Konvent konnte Thérèse bei ihren fünf Novizinnen, die sie geistlich begleitete - so etwas geschieht ja nicht von selbst -, eine sehr schöne Aufgabe erfüllen … Ich habe gleich gesehen, dass diese Aufgabe über meine Kräfte ging …
Als sie sich aber der zentralen Idee ihres kleinen Weges überlassen hatte, wurde die Aufgabe sehr einfach. So sagte ich: Herr, ich bin zu klein, um Deine Kinder zu nähren; willst Du ihnen durch mich austeilen, was jede braucht, so fülle meine kleine Hand, und ohne Deine Arme zu verlassen, ohne den Kopf zu wenden, werde ich Deine Schätze der Seele geben, die mich um Nahrung bitten wird… Seitdem ich begriffen habe, daß ich aus mir selbst nichts wirken kann, scheint mir die Aufgabe, die Du mir übertragen hast, nicht mehr schwierig, ich fühle, daß nur eins nottut: mich mehr und mehr mit Jesus zu vereinen, und daß das übrige mir dazugegeben werden wird. In der Tat ist meine Hoffnung nie enttäuscht worden; der liebe Gott war so gütig, meine kleine Hand zu füllen, sooft es nötig war, um die Seele meiner Schwestern zu nähren (C 249/250).
Es versteht sich von selbst, dass Thérèse all ihre Talente dem Herrn zur Verfügung stellte und Ihn gleichzeitig bat, diese immer mehr zu vervollkommnen. Und welchen Respekt hatte sie vor der Person jeder einzelnen Mitschwester!
Hätte ich mich auch nur im geringsten auf meine eigenen Kräfte verlassen, hätte ich Ihnen sehr bald die Waffen zurückgegeben … Von weitem erscheint es ganz rosig, den Seelen Gutes zu tun, sie in der Gottesliebe zu fördern, kurz, sie nach seinen persönlichen Ansichten und Gedanken zu formen. Aus der Nähe ist es ganz das Gegenteil, die Rosafarbe ist verschwunden … man spürt, dass es ohne die Hilfe des lieben Gottes ebenso unmöglich ist, Gutes zu wirken, wie die Sonne bei Nacht scheinen zu lassen … Man fühlt, dass man seine Neigungen, seine persönlichen Meinungen völlig vergessen und die Seelen auf dem Weg führen muss, den Jesus ihnen vorgezeichnet hat, ohne zu versuchen, sie auf dem eigenen Weg voranführen zu wollen (C 250).
Ihre Erfahrung lehrt sie: Die Menschen sind so verschieden, dass
ich ohne Mühe verstehe, was Pater Pichon sagte: Die Verschiedenheit
der Seelen ist noch viel größer als die der Gesichter
(C
251).
Und sie sagt auch: …daß es Seelen gibt, auf die zu warten die Barmherzigkeit Gottes nicht müde wird, denen Er Sein Licht nur allmählich vermittelt (C 247). Sie hütet sich also gut davor, der Stunde des Herrn vorzugreifen.
Sie ist mit Euch ganz eins
Für Thérèse ist also eine tiefe Vereinigung mit Jesus Christus die unumgängliche Bedingung, um ein glühender Apostel zu sein. Nachdem sie den anderen in ihrem Apostolat begegnet ist, trägt sie sie auch noch im Gebet vor den Herrn. Legt sie Ihm all die Bedürfnisse der Menschen vor? Sie kennt sie so gut … Und sie hegt für jeden von ihnen so große Wünsche, für die Missionare, für die gesamte Kirche … Welche Lösung gibt es dafür?
Eines Morgens erhellt das Licht ihres kleinen Weges auch dieses Problem: Jesus selbst denkt an all diese Bedürfnisse, Thérèse braucht sich Ihm nur ganz zu überlassen! Das erklärt sie uns folgendermaßen:
Einfache Seelen bedürfen keiner umständlichen Mittel; da
ich zu diesen zähle, gab mir Jesus eines Morgens bei der Danksagung
ein einfaches Mittel, meine Sendung zu erfüllen. Er ließ mich
das Wort des Hohenliedes verstehen: Zieh mich her hinter Dir, laß
uns eilen zum Duft Deiner Wohlgerüche.
O Jesus, es ist also nicht
einmal nötig zu sagen: Indem Du mich an Dich ziehst, ziehe auch die
Seelen, die ich liebe, an Dich!
Dieses schlichte Wort: Ziehe mich an
Dich!
genügt. Herr, ich begreife es, wenn eine Seele sich vom berauschenden
Duft Deines Wohlgeruches fesseln läßt, dann kann sie nicht einsam
eilen; alle Seelen, die sie liebt, zieht sie hinter sich her; dies geschieht
ohne Zwang, ohne Anstrengung, es ist eine natürliche Folge ihres Hingezogenseins
zu Dir. So wie ein Sturzbach, der sich mit Ungestüm in den Ozean wirft,
alles mit sich schwemmt, was ihm unterwegs begegnet, so mein Jesus, zieht
die Seele, die in den uferlosen Ozean Deiner Liebe eintaucht, alle Schätze
mit sich, die sie besitzt (C 270).
Oh, Thérèse ist während der langen Gebetsstunden recht oft zerstreut und schläfrig, obwohl sie leidenschaftlich dagegen ankämpft. Aber voll Glauben und Vertrauen bittet sie dann Jesus, der sie so liebt, immer wieder, sie an sich zu ziehen. Auch ihr Gebet will sie nicht mehr selbst verwirklichen, sie bittet, dass Jesus in ihr lebt und in ihr betet. Das ist mein Gebet, ich bitte Jesus, mich in die Flammen Seiner Liebe hineinzuziehen, mich so innig mit Ihm zu vereinen, daß Er in mir lebt und wirkt (C 273).
Thérèse wird von Jesus fast magnetisch angezogen. Tag und Nacht verliert sich ihr Herz in Ihm. Ich glaube, ich habe niemals auch nur drei Minuten lang nicht an Gott gedacht … Es ist doch natürlich, daß man an jemanden denkt, den man liebt (MST 90).
In ihrem Gedicht Aus Liebe leben
hatte sie geschrieben:
Die Liebenden suchen der Einsamkeit Schleier
für das Einssein der Herzen bei Tag und bei Nacht.
Die Zeit, um in der Nacht zu beten, wird ihr geschenkt, als sie in der Krankenwärterei ist und die Tuberkulose ihren armen Körper zerstört. Wenige Wochen vor Thérèses Tod kommt Céline zu ihr herein und findet sie mit gefalteten Händen und zum Himmel erhobenen Augen vor.
- Was machen Sie denn? sagt Céline zu ihr, Sie müssen versuchen zu schlafen.
- Ich kann nicht, ich habe zu große Schmerzen, so bete ich …
- Und was sagen Sie Jesus?
- Ich sage Ihm nichts, ich liebe Ihn! (IGL 252).
Jesus ist ihre Zuflucht inmitten des Gewitters, ihr Licht in der Nacht, ein Stückchen Himmel bereits hier auf Erden:
Es ist mein Himmel, bei Ihm zu sein,
Ihn meinen Vater zu nennen und mich Sein Kind
(Gedicht 32).
Übrigens ist für sie das Vater unser ein Gebet von unvergleichlicher
Schönheit (C 255). Ihre ganze Spiritualität ist ein lebender
Kommentar zu diesen Bitten, die Jesus uns zu beten gelehrt hat. Thérèse
lebt wie eine jener Anawim, dieser Armen Jahwes, die ihr ganzes
Heil von Gott erwarten, wie Maria, eine jener Demütigen und Hungrigen,
die Er mit Seinen Gaben beschenkt
(Lk 1,53).
Deswegen wird Thérèse immer mehr wie Maria. Sie liebt
Maria so sehr. In ihrem allerletzten Gedicht versucht sie, dies noch einmal
zu wiederholen: Warum ich dich liebe, o Maria!
(G 54). In Maria sieht
Thérèse die Mutter und den Prototyp aller Kleinen, die den
gewöhnlichen Weg
des Glaubens und des Vertrauens gehen. Nazaret
und Lisieux sind einander so nahe. Wenn Thérèse auch fünfundzwanzig
Strophen braucht, um auszudrücken, wie sehr sie Maria liebt
, so
sind doch die letzten Worte des allerletzten Verses die Zusammenfassung
von dem Ganzen: Ich bin dein Kind.
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