Hirtenwort der deutschen Bischöfe
zur Heiligsprechung von Edith Stein
am 11.Oktober 1998
Brüder und Schwestern im Herrn!
Am heutigen Sonntag spricht der Heilige Vater eine bedeutende Frau unseres Jahrhunderts heilig: Edith Stein. Morgen
ist ihr 107. Geburtstag. Als Kind jüdischer Eltern wurde sie am 12. Oktober 1891 in
Breslau geboren.
Mit 51 Jahren starb sie 1942 in der Gaskammer von Auschwitz - ermordet durch nationalsozialistische Schergen. Über ein halbes Jahrhundert ist seither vergangen.
Edith Steins Leben gibt uns zu denken. Im Kreis von sieben Geschwistern
ist sie herangewachsen. Als Jüngste war sie der Liebling der ganzen
Familie. Den Vater verlor sie, als sie noch keine zwei Jahre alt war. Ihre
Mutter hielt sich bei der Erziehung streng an das jüdische Gesetz.
Ediths Weg verlief aber ganz anders. Mit vierzehn Jahren wollte sie nicht
mehr in die Schule gehen, obwohl sie hochbegabt war. Ihre Mutter schickte
sie für eine Zeit nach Hamburg
zu ihrer Schwester, die dort verheiratet
war. Über diese Zeit schrieb Edith später: Es fiel mir nicht
schwer, von zu Hause fortzugehen. Es war die Zeit, in der ich meinen Kinderglauben
verlor und anfing, mich als selbständiger Mensch aller Leitung durch
Mutter und Geschwister zu entziehen. … (In Hamburg) habe ich mir das Beten
ganz bewußt und aus freiem Entschluß abgewöhnt.
Als Vierzehnjähige
hatte sie also den Glauben der Väter verloren. Sie nannte sich selbst
eine Atheistin, eine Gottlose, weil sie nicht an das Dasein Gottes glauben
konnte. Ediths Eigenart war es, nichts ungeprüft hinzunehmen. Sie
ging den Dingen auf den Grund. Sie suchte unerbittlich nach der Wahrheit,
nicht ahnend, dass sie damit den suchte, der die Wahrheit ist.
Nach dem Abitur begann sie das Studium, zunächst in Breslau; dann wechselte sie nach Göttingen. Dort lehrte der berühmte Philosoph Edmund Husserl. Sie folgte ihm nach Freiburg. 1917 promovierte sie zum Doktor der Philosophie und wurde Husserls Assistentin.
Damals hatte sie eine Begegnung, die tiefe Spuren in ihr hinterließ.
Frau Reinach bat sie, ihrem gefallenen Mann die traurige Freundschaftspflicht
zu erfüllen und seinen philosophischen Nachlaß zu ordnen. Edith
Stein war selbstverständlich dazu bereit, doch fürchtete sie
sich vor der Begegnung mit der jungen Witwe. Was für ein Wort des
Trostes sollte sie ihr sagen, die nach kurzer, sehr glücklicher Ehe
ihren Gatten verloren hatte? Doch es kam ganz anders. Sie fand
keine gebrochene, verzweifelte Witwe vor, sondern eine Frau, die sich am
Kreuz Christi festhielt und sich beim Kreuz Kraft holte, ihren Schmerz
tapfer zu tragen. Diese Erfahrung traf Edith Stein im Innersten. Sie sagte
später über diese Begegnung: Es war dies meine erste Begegnung
mit dem Kreuz und der göttlichen Kraft, die es seinen Trägern
mitteilt. Ich sah zum erstenmal die aus dem Erlöserleiden Christi
geborene Kirche in ihrem Sieg über den Stachel des Todes handgreiflich
vor mir. Es war der Augenblick, in dem mein Unglaube zusammenbrach, … und
Christus aufstrahlte: Christus im Geheimnis des Kreuzes.
Gottes Führung
zeigte sich immer deutlicher. In der Begegnung mit Frau Reinach leuchtete
ihr zum erstenmal Christus im Geheimnis des Kreuzes auf. Aber es dauerte
noch Jahre, bis sie ans Ziel kam.
Es war im August 1921. Edith Stein weilte zu Gast bei ihrer Freundin
Hedwig Conrad-Martius und deren Gatten in Bad Bergzabern in der Pfalz.
Das Ehepaar hatte auswärts zu tun. Vor der Abreise führte Frau
Conrad-Martius ihre Freundin Edith zum Bücherschrank und forderte
sie auf, nach Belieben zu wählen.
Edith Stein erzählt später selbst: Ich griff hinein aufs
Geratewohl und holte ein umfangreiches Buch hervor. Es trug den Titel:
'Leben der heiligen Teresa von Avila', von ihr selbst geschrieben. Ich
begann zu lesen, war sofort gefangen und hörte nicht mehr auf bis
zum Ende. Als ich das Buch schloß, sagte ich mir: ,Das ist die Wahrheit'.
Die ganze Nacht hindurch hatte sie gelesen.
Was war geschehen? All die Jahre hindurch hatte sie die Wahrheit gesucht.
In dieser Nacht hat sie die Wahrheit gefunden. Aber es war nicht das, was
die Philosophen, zu denen sie gehörte, Wahrheit nannten, sondern eine
ganz andere Wahrheit: die Wahrheit in Person, das liebende Du Gottes, das
Teresa von Avila erfahren hatte und in ihrer Lebensbeschreibung bezeugt.
Als Edith Stein am Morgen das Buch schloß und sagte: Das ist die
Wahrheit!
, ging gerade die Sonne auf. In ihrem Inneren aber war das Licht
der Gnade und der Liebe Gottes aufgegangen. Edith Stein hatte die Wahrheit
gesucht und Gott gefunden.
Später schreibt sie im Rückblick auf die langen Jahre des
Suchens: Meine Suche nach der Wahrheit war ein einziges Gebet.
Ein Wort
des Trostes für alle, die sich mit dem Glauben schwer tun.
Die Entscheidung war gefallen. Am Neujahrstag 1922 wurde sie in der Pfarrkirche von Bergzabern getauft. Sie wählte als Taufnamen Teresia Hedwig. Edith Stein war überglücklich, Gott gefunden zu haben.
Eigentlich wollte sie nach der Taufe sofort in den Karmel eintreten. Aber der weise Domkapitular Schwind von Speyer gab ihr den Rat, zuerst in der katholischen Kirche heimisch zu werden. Er vermittelte ihr eine Stelle am Lehrerinnenseminar in Speyer, das von den Dominikanerinnen geleitet wurde. Edith Stein wohnte im Kloster St. Magdalena und führte ein klösterliches Leben.
Sie war eine glänzende Lehrerin; ebenso war sie im ganzen deutschsprachigen Raum eine gesuchte Rednerin. Die Stellung der Frau in Kirche und Gesellschaft bildete einen Schwerpunkt ihrer Arbeit. Sie wäre nach Abschluß ihrer Studien gerne Professorin an der Universität geworden, wurde aber mehrmals zurückgewiesen, weil sie eine Frau war.
In einem Brief aus jenen Jahren verrät sie uns, was sie bei ihrer
Tätigkeit zutiefst bewegte: Es ist im Grunde immer eine kleine, einfache
Wahrheit, die ich zu sagen habe: wie man es anfangen kann, an der Hand
des Herrn zu leben.
Diese Einsicht war in ihrer eigenen Lebensgeschichte gereift. Als Vierzehnjährige hatte sie sich von Gott losgesagt. Aber der Herr hat sie nicht losgelassen, sondern mit seiner sicheren Hand geführt.
1931 verließ sie Speyer.
1932 begann sie als Dozentin am Deutschen
Institut für wissenschaftliche Pädagogik in Münster
ihre Tätigkeit. Um durch ihre jüdische Abstammung das Institut nicht
zu gefährden, gab sie kurz nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten
bereits im Frühjahr 1933 ihre Lehrtätigkeit wieder auf. Die Zeit
war reif geworden, ihren Entschluß zu verwirklichen. Im Oktober 1933
trat sie in den Karmel in Köln ein. Es war am Fest der hl. Teresa
von Avila. Über ihren Eintritt schrieb sie: Endlich tat sich die
Tür auf, und ich überschritt in tiefem Frieden die Schwelle zum
Hause des Herrn.
Ein halbes Jahr später empfing sie das Ordenskleid
und erhielt den Namen Teresia Benedicta a Cruce - Teresia vom Kreuz gesegnet,
den sie sich erbeten hatte.
Das Kreuz wurde nun über ihr aufgerichtet. Der Judenhaß der Nationalsozialisten steigerte sich von Tag zu Tag. Edith Stein war sich im klaren, dass ihre Anwesenheit das Kölner Kloster gefährdete.
In der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 entlud sich
der Haß der Machthaber gegen die Juden. Edith Stein war von tiefem
Schmerz erfüllt. Erst als Christin war ihr die Bedeutung des jüdischen
Volkes in der Heilsgeschichte aufgegangen. Sie nannte die Juden mein Volk
.
In der Silvesternacht floh sie über die holländische Grenze in den Karmel nach Echt. Im Jahre 1940 wurde Holland von den Deutschen besetzt, so dass die Gefahr, der sie in Köln entkommen war, sie hier wieder einholte. Am 26. Juli 1942 ließen die holländischen Bischöfe einen Hirtenbrief verlesen, in dem sie gegen die Judenverfolgung protestierten. Die nationalsozialistischen Machthaber nahmen furchtbare Rache. Sie verhafteten alle katholischen Juden, um sie nach dem Osten zu deportieren.
Bereits am 2. August, 5 Uhr nachmittags, erschienen zwei SS-Offiziere im Karmel und holten Edith Stein und ihre Schwester Rosa, die ihr ins Kloster gefolgt war, ab.
Im Sammellager entfaltete Edith Stein, die in häuslichen Dingen
ansonsten unbeholfen war, eine erstaunliche Tätigkeit. Ein Augenzeuge
berichtete: Unter den Gefangenen fiel Schwester Benedicta auf durch ihre
große Ruhe und Gelassenheit. Der Jammer und die Aufregung waren unbeschreiblich.
Schwester Benedicta ging unter den Frauen umher, tröstend, helfend,
beruhigend wie ein Engel.
In einem kleinen Brief vom 6. August nach Echt,
in dem sie für Rosa und sich um einige Gebrauchsgegenstände bat, steht der Einschub:
konnte bisher herrlich beten
. Die innige Verbundenheit mit dem Herrn
gab ihr auch im Angesicht des Todes einen tiefen Frieden. Sie ging als
gläubige Christin in innerer Solidarität den Weg ihres Volkes mit.
Am 7. August, morgens um halb vier Uhr, setzte sich der Transportzug
mit den Gefangenen in Bewegung. Am späten Nachmittag hielt der Zug
- die Gefangenen waren in Viehwaggons eingezwängt - in Schifferstadt
bei Speyer.
Hier wurde Edith Stein zum letztenmal von überlebenden
Zeugen gesehen. Sie ließ Grüße an die Schwestern in St.
Magdalena in Speyer bestellen mit dem Zusatz: Es geht nach dem Osten.
Zwei Tage später kam der Zug in Auschwitz an. Die Gefangenen wurden
sofort in die Gaskammer geführt und ermordet.
Edith Steins letztes Wort auf dem Schifferstadter Bahnhof: Es geht
nach dem Osten
ist mehr als eine geographische Angabe. Als die Frauen,
die Jesus bis unter das Kreuz begleitet hatten, nach dem Entsetzen des
Karfreitags am Ostermorgen voller Trauer zum Grab gingen, um ihn zu salben,
ging im Osten gerade die Sonne auf, und sie vernahmen die österliche
Botschaft: Erschreckt nicht! Ihr sucht Jesus, den Gekreuzigten. Er ist
auferstanden; er ist nicht hier
(Mk 16,6). Der Weg, den Edith Stein an
der Hand des Herrn ging, endete nicht in der Gaskammer von Auschwitz, sondern
in der Auferstehung mit Christus. Dies bezeugt die Kirche durch die feierliche
Heiligsprechung, die der Heilige Vater heute vornimmt.
Damit stellt der Papst das Leben Edith Steins auf einen hohen Leuchter. Von ihm soll Licht in unser Leben strahlen, dass auch wir uns wie sie an der Hand des Herrn führen lassen und stets die Wahrheit suchen, um Gott zu finden. Dann werden auch wir vom Kreuz Christi gesegnet und schließlich wie sie in Gott vollendet werden.
Dazu segne Euch der allmächtige Gott, der Vater und der Sohn und der Heilige Geist.
Würzburg, den 24. August 1998
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