Mit leeren Händen
Die Botschaft der Thérèse von Lisieux
Dynamik der Hoffnung
Nachdem wir untersucht haben, wie Thérèses Vertrauen gewachsen ist, wollen wir nun noch von einer anderen Warte aus die Struktur ihrer Sichtweise erklären. Wie passen ihre Intuitionen und ihre Erfahrungen zusammen?
Wir können feststellen, dass in der geistigen Entwicklung
Thérèses zwei Kräfte zusammenwirken. Zunächst wendet
sie sich, da sie ihr Unvermögen erkennt, aus eigener Kraft zur vollkommenen
Liebe zu gelangen, von sich weg und zu Gott hin, dem nichts unmöglich
ist
(Lk 1,37). Der Ausgangspunkt ist negativ, das Ergebnis positiv.
Zur gleichen Zeit verstärkt eine zweite Kraft diese erste. Eine zentripetale Kraft zieht sie zu Gott als ihrem neuen Mittelpunkt hin. Von Gottes Barmherzigkeit fasziniert, läßt sie sich in die göttliche Sphäre hineinziehen. Hier ist der Ausgangspunkt positiv, und die Folge bei Thérèse ist eine größere Selbstvergessenheit, um in Gott wiedergeboren zu werden.
Der Mensch, das unvollendete Wesen
In dem Maß, wie Thérèse ihr Ende herannahen fühlt,
stuft sie sich selbst immer mehr als schwach
und unvollkommen
ein.
Müssen wir sie ernst nehmen, wenn alle Zeugen einstimmig ein Loblied
auf ihre Treue singen?
Halten wir zunächst einmal fest, dass diese Zeugen bloß Zuschauer sind. Von außen können sie nicht immer in die Bereiche des Herzens vordringen, wo sich der moralische Wert einer Handlung entscheidet. Wie können sie die Motive ergründen? Was wissen sie von den im Inneren verborgenen Gefühlen? Wie können sie über die beständige Offenheit der Gnade gegenüber urteilen? Das ist ein Bereich, zu dem nur Thérèse und Gott vollen Zugang haben. Oh, wie sehr kennt der liebe Gott ganz allein das Innerste der Herzen, schreibt sie(C 245).
Im übrigen gibt es ja auch Fehler, die nur mittelbar mit Schuld zu tun haben und nicht vorsätzlich begangen werden, denen aber dennoch eine ungeläuterte Wurzel zugrunde liegt. Außerdem hat die Feinfühligkeit des Gewissens Thérèses, wie es in ihrer Kindheit gewesen ist, sich weiter entwickelt. Sie bemerkt jeden Fehler, auch wenn die Freude über die göttliche Barmherzigkeit obsiegt. Obwohl sie von der rettenden Macht Gottes überzeugt ist, hindert sie dies nicht daran, ihre besonders innige Beziehung zu Ihm mit einer doppelten Ehrfurcht vor Seiner Majestät zu verbinden.
Je heiliger sie wird, desto mehr verstärkt sich ihre Sensibilität
gegenüber Gut und Böse. Der heilige Johannes vom Kreuz hat in
ergreifenden Worten erklärt, welche Nacht des Gefühls Nicht-würdig-zu-sein
die Annäherung an Gott in einer Seele entfesseln kann. Im Licht Gottes
wird das kleinste Staubkörnlein sichtbar. Seit Thérèse
mit den Ungläubigen und Sündern zusammen am Tisch der Sünder
sitzt, fühlt sie sich in ihrem Inneren mit ihnen solidarisch. Eines
Morgens, als sie das Schuldbekenntnis betet, hat sie den starken Eindruck,
eine große Sünderin
zu sein (IGL 161). Nun ruft sie vor dem
Bild des gekreuzigten Jesus, das zehn Jahre vorher einen solchen Durst
nach dem Apostolat in ihr ausgelöst hat, aus: Herr, Du weißt,
daß ich Dich liebe, aber hab Erbarmen mit mir, denn ich bin eine
Sünderin. Fünf Monate vor ihrem Tod gesteht sie Abbé
Bellière: Glauben Sie mir, der liebe Gott hat Ihnen keine große
Seele zur Schwester gegeben, sondern eine ganz kleine und sehr unvollkommene
(Brief 224).
Solche Ausdrücke wollen nicht zu einer größeren Demut oder zu einem Sich-Verbergen vor ihrer Umgebung beitragen. Thérèse meint es ganz ernst, wenn sie von ihrer Armut spricht. Sie erfaßt ihren Weg genau - ausgehend von dieser Situation der Unvollkommenheit, die im Wissen um die göttliche Barmherzigkeit den Boden bildet, auf dem das Vertrauen wachsen kann. Die Demut ist die Wahrheit (MST 32), schreibt sie in Anlehnung an ihre Namensschwester und Patronin, Teresa von Avila. Das veranlaßt sie, die Wunder Gottes in ihrem Leben (C 217) ebenso gut zu sehen wie die Grenzen, die sie von ihrem Ideal fernhalten. Von außen gesehen gibt es vielleicht nichts mehr, was man ihr vorwerfen könnte, aber ihr Inneres sieht sie selbst mit dem scharfen und ganz geläuterten Blick einer Heiligen. Man darf nicht glauben, dass Thérèse die anderen einen Weg des Vertrauens inmitten ihrer Situation der Unvollkommenheit lehrt, ohne selbst diese Situation mit ihnen noch zu teilen. Wenn sie auch bereits weiter fortgeschritten ist als die anderen, so geht sie doch auf demselben gemeinsamen Weg, der sie zum Gipfel führt.
Es ist zweifellos ermutigend zu hören, dass die Heilige von Lisieux sogar in den letzten Monaten ihres Lebens alle möglichen kleinen Verfehlungen bekennt: das Aufkommen von Ungeduld während ihrer Krankheit - bloß einen Augenblick lang (Brief 230); Gelegenheiten, kleine Opfer zu bringen, die sie vorübergehen läßt (C 264). Und während ihr die Nächstenliebe gleichsam zur zweiten Natur geworden ist, bemerkt sie nichtsdestoweniger: Ich will nicht sagen, dass ich keine Fehler mehr begehe, oh! dafür bin ich zu unvollkommen (C 234).
Aber die Freude an der Wahrheit hat jede egoistische Traurigkeit über ihre Verfehlungen hinweggenommen: Alle Geschöpfe können sich der kleinen Blume zuneigen, sie bewundern, sie mit ihrem Lob überschütten, das alles kann, ich weiß nicht warum, keinen einzigen Tropfen falscher Freude zur wahren Freude hinzufügen, die sie in ihrem Herzen verspürt, weil sie erkennt, was sie in den Augen Gottes ist: ein armes kleines Nichts, nicht, mehr (C 213).
Diese Unvollkommenheit ist nicht nur eine gegebene Tatsache. Sie ist
auch unvermeidlich, eine Gegebenheit, die der menschlichen Natur zugrunde
liegt. In ihrer Hingabe an die erbarmende Liebe des lieben Gottes
hält
Thérèse fest, dass all unsere Gerechtigkeit in den
Augen Gottes mangelhaft ist, und sie sieht realistisch voraus, dass
sie aus Schwachheit manchmal fallen wird. Kein menschliches Leben ist
frei von Fehlern, schreibt sie (Brief 226). Auch die Heiligmäßigsten
werden erst im Himmel vollkommen sein (C 259).
Der Gerechte fällt eben sieben Mal am Tag (Spr 24, 16).
Drei Monate vor ihrem Tod legt Thérèse ein sehr bedeutsames Geständnis ab. Außer einem Glauben voller Hoffnung auf die befreiende Kraft Gottes entdecken wir darin auch eine tiefe Einsicht in die Unvollkommenheit, die jedem menschlichen Wachstum auf Gott hin zu eigen ist. Wenn ich an meine Noviziatszeit zurückdenke, so sehe ich recht deutlich, wie unvollkommen ich war … Ich machte mir Sorgen um solche Kleinigkeiten, daß ich jetzt darüber lache. Oh! wie gut ist der Herr, dass Er meine Seele wachsen ließ, ihr Flügel verlieh … Später wird mir zweifellos auch meine jetzige Zeit voller Unvollkommenheiten erscheinen; doch jetzt wundere ich mich über nichts mehr, ich sorge mich nicht, wenn ich sehe, dass ich die Schwäche selbst bin; im Gegenteil, ich rühme mich ihrer und mache mich jeden Tag darauf gefaßt, neue Unvollkommenheiten in mir zu entdecken (C 237).
Gott, der Unerreichbare
Thérèse wird noch in anderer Weise, gerade durch ihre
unendlichen Wünsche, stark mit ihrer Unvollkommenheit konfrontiert.
Lieben: ganz, ohne Grenzen, unendlich, das war und ist der Traum dieser
jungen Frau. Um dieses Zieles willen ist sie arm geworden, betend, wachend,
beseelt von einem tiefen Sinn für das Unendliche. Am Tag ihrer Profeß
bittet sie um die Liebe, die keine andere Grenze kennt als Dich…, die
Liebe, die nicht mehr ich bin, sondern Du, mein Jesus
. In ihrer Hingabe
an die Liebe
fleht sie um die vollkommene Liebe
, das Martyrium der
Liebe
. Das Manuskript B spricht von der Fülle der Liebe
(B 204)
und zehn Mal von ihrem Wahnsinn.
Als Liebende entdeckt Thérèse alle positiven Möglichkeiten,
die am Grunde des menschlichen Herzens verschüttet liegen. Sie ist
ganz versessen auf die Liebe! Bei jedem Akt der Liebe fühlt sie in
sich den Ruf laut werden: noch
, mehr
! Ihre Fähigkeit zu lieben
wächst ohne Unterlaß. Beglückt sehe ich, dass durch
die Liebe zu Ihm das Herz sich weitet, dass es nun imstande ist, all
jenen, die ihm teuer sind, eine unvergleichlich größere Zärtlichkeit
zu schenken, als wenn es sich in einer selbstsüchtigen und unfruchtbaren
Liebe in sich abgekapselt hätte (C 249).
Ein Herz, das sich Gott schenkt, verliert seine natürliche Zärtlichkeit nicht, im Gegenteil, diese Zärtlichkeit wächst, je reiner und göttlicher sie wird (C 225).
Jede Sättigung der Liebe bringt nur noch größeren Durst nach ihr hervor. Deine Liebe ist mein einziges Martyrium, je mehr ich sie in mir brennen spüre desto mehr verlange ich nach Dir (G 31).
Ihr ganzes Leben der Liebe ist durchdrungen von dem Wunsch, den Viel-Geliebten zu lieben, wie es Ihm gefällt, wie Er es eigentlich verdienen würde, in einer Antwort, die der Liebe, mit der sie geliebt wird, ebenbürtig ist und ebenso viel gibt, wie sie empfängt. Thérèse, die glühend liebt, möchte Gott genauso lieben, wie Er sie liebt.
Aber hier wird sie ohne Ende scheitern - auch wenn sie sehr heilig ist!
Gott wird niemals in dem Maß geliebt, wie Er uns liebt! Er liebt
uns immer zuerst und mehr. Die Liebe muss, da sie stets besiegt wird
und an ihren Traum nicht heranreicht, gestehen: Gott ist größer
als unser Herz
(1 Joh 3,20). Und dennoch muss die Liebe nach dieser
Ebenbürtigkeit streben.
Der heilige Johannes vom Kreuz sagt, dass die Seele danach strebt, Gott mit jener Reinheit und Vollkommenheit zu lieben, mit der sie von Ihm geliebt wird, um Ihm zu vergelten, was sie Ihm schuldet… Dieses Sehnen der Seele zielt auf die Gleichförmigkeit mit der göttlichen Liebe, die sie immer sowohl der Natur als auch der Gnade nach erstrebte. Denn der wahrhaft Liebende kann sich nicht zufrieden geben, bis er der Liebe zu entsprechen glaubt, mit der er geliebt wird (Johannes vom Kreuz, Geistlicher Gesang, 38,2-3).
Was Thérèse vorschwebt, ist, ein Kanal zu werden, durch den die Liebe Gottes in vollkommener Weise durch uns hindurch und zu Ihm zurückfließen kann. Aber wie könnte der Kanal je breit genug sein, um eine solch unendlich große Liebe durchzulassen? Und wenn wir wirkliche Fehler begehen, echte Sünden: würde das die Liebe nicht verzögern und sie auch vermindern?
Unmerklich entdeckt Thérèse mit einer unerbittlichen Schärfe, daß wir Gott niemals so lieben werden, wie Er uns liebt. Wir werden immer die Unterlegenen bleiben und müssen die Ohnmacht unserer Liebe erkennen. Am Abend ihres Lebens wird die Heilige in einem umfassenden Rückblick dieses bewegende Bekenntnis ablegen: Deine Liebe umsorgte mich seit meiner Kindheit, sie wuchs mit mir heran, und nun ist sie ein Abgrund, dessen Tiefe ich nicht auszuloten vermag. Liebe zieht Liebe an, und darum, mein Jesus, stürzt die meine Dir entgegen, möchte den Abgrund, der sie anzieht, ausfüllen, aber ach! sie ist nicht einmal ein Tautropfen, der sich im Ozean verliert!… Um Dich zu lieben, wie Du mich liebst, muss ich mir Deine eigene Liebe ausleihen, dann erst finde ich Ruhe (C 271).
Daraus lassen sich drei Schlußfolgerungen ziehen.
1. Unsere Liebe ist wesentlich dazu berufen, die größere Liebe Gottes über sich triumphieren zu lassen. Nach und nach muss daraus hervorgehen, dass Gott uns aus freien Stücken liebt, dass Er uns als erster liebt, uns mehr liebt, uns barmherzig liebt.
2. Der Mensch muss sich annehmen, wie er wirklich ist: was er ist, was er werden kann, nicht mehr und nicht weniger; seine gegenwärtige und unvermeidliche Unzulänglichkeit anerkennen. Die Demut ist für den Weg Thérèses ein grundlegendes Element.
3. Aus eigenen Kräften kann die Liebe niemals dahin gelangen, wohin
sie gelangen will. Selbst wenn sie niemals fehlen würde, könnte
sie Gott nie mit gleicher Münze die Liebe zurückzahlen. Wir werden
immer Seine Schuldner sein. Daraus resultiert die Wichtigkeit der Hoffnung.
Es bleibt uns nur zu beten: Herr, laß in mir Deine eigene Liebe
wachsen. Ergänze in mir, was an meiner Liebe zu Dir fehlt. Fülle
meine leeren Hände, gib mir Dein eigenes Herz.
Dies ist der innere Vorgang, dem wir in den entscheidenden Momenten
auf Thérèses Weg begegnet sind: bei der Entdeckung ihres
kleinen Weges
(1894), bei ihrem Akt der Hingabe
(1895), im Manuskript
B (1896). Wir beobachten diesen Vorgang in allen Bereichen ihres Lebens.
In ihren Gedichten hat Thérèse öfters ihre Hoffnung voller Bestimmtheit ausgedrückt.
Ach! gib mir, Dich zu lieben, tausend Herzen.
Aber, höchste Schönheit, Jesus, dies ist allzu wenig,
gib mir, Dich zu lieben, Dein eigen göttlich Herz. (Gedicht 24)
Und ein anderes Mal:
Nach Deiner Liebe, Jesus, ich verlange.
Sie möge mich verwandeln, Deine Liebe.
Leg Dein verzehrend' Feuer in mein Herz,
so kann ich preisen Dich und lieben.
Ja, lieben kann ich Dich dann, wie man liebt,
und preisen Dich, wie man es tut im Himmel,
ich werd' Dich lieben mit der Liebe selbst,
mit der Du mich liebst, Jesus, Ew'ges Wort.
(Gedicht 41)
Die Liebe kann mit ihrer ganzen Glut zu Gott hinstreben, doch nur Gott
läßt wachsen
(1 Kor 3,7)! Trotz aller nur erdenklichen Anstrengungen
kann der Mensch bloß voll Vertrauen hoffen, dass Gott selbst
es ihm gewähren wird, in ganzer Fülle Ihm ähnlich zu werden,
an Seiner vollkommenen Liebe in der größtmöglichen Weise
Anteil zu erhalten.
Aber es ist ihm erlaubt, zu hoffen!
Wie wahr ist es, wir werden niemals genug lieben; aber der liebe Gott,
der weiß, aus welchem Schlamm Er uns geformt hat, und der uns viel
mehr liebt, als eine Mutter ihr Kind lieben kann, Er, der nicht lügen
kann, hat uns gesagt, dass Er den, der zu Ihm kommt, nicht zurückstoßen
wird.
Dies schrieb Charles de
Foucauld am letzten Tag seines Lebens an Mme de Bondy …
Von der Barmherzigkeit angezogen
Thérèse findet sich, klein und geprüft, wie sie ist, einer sehr beglückenden Erfahrung gegenüber: O mein Jesus, vielleicht ist es eine Täuschung, aber mir scheint, es ist nicht möglich, daß Du eine Seele mit mehr Liebe erfüllst, als Du die meine erfüllt hast… Hier auf der Erde kann ich mir keine größere Unermeßlichkeit an Liebe vorstellen als jene, mit der es Dir gefallen hat, mich umsonst, ohne jegliches Verdienst meinerseits, so verschwenderisch zu beschenken (C 271/272).
Sie hat das Bild der Ähre für einen sehr schönen Vergleich verwendet: Diese Ähre ist das Gleichnis meiner Seele: der liebe Gott hat mich mit Gnaden beladen für mich selber und für viele andere (IGL 143).
Und die Erfahrung erhellt auch ihren Blick auf Gott - den Blick, der so gut mit allem übereinstimmt, was Jesus uns geoffenbart hat - und lehrt sie, was Gott von ihr will: Ich begreife, dass nicht alle Seelen einander gleichen können; es muss unter ihnen verschiedene Familien geben, damit jede der göttlichen Vollkommenheiten besonders verherrlicht wird. Mir hat Er Seine unendliche Barmherzigkeit gegeben, und durch sie hindurch betrachte ich und bete ich die übrigen göttlichen Vollkommenheiten an! … Dann erscheinen sie mir alle strahlend vor Liebe; selbst die Gerechtigkeit (und sie vielleicht noch mehr als jede andere) scheint mir mit Liebe bekleidet … Welch süße Freude ist es zu denken, dass Gott gerecht ist, das heißt, dass Er unserer Schwäche Rechnung trägt, dass Er um die Gebrechlichkeit unserer Natur genau weiß. Wovor sollte ich mich also fürchten? (A 185).
Von nun an strahlt auch die Heilige Schrift für sie diese Güte Gottes aus! Die Psalmen 23 (Der Herr ist mein Hirte) und 103 (Lobe den Herrn, meine Seele) scheinen die Lieblingspsalmen Thérèses gewesen zu sein. Um wieviel besser versteht sie jetzt, was sie zu Beginn ihres Ordenslebens geschrieben hat: Jesus ist der König, der um die Hand des kleinen Dorfmädchens anhält (Brief 109)!
Mit welcher Liebe verweilt sie bei dieser wohlwollenden höchsten Liebe Gottes, die Er uns in der Menschheit Jesu geschenkt hat: durch Sein Leben, Seinen Tod, Seine Auferstehung, Seine eucharistische Gegenwart …
Wie durchdrungen ist sie vom Geheimnis des Ostergeschehens: Jesus lebt,
Er ist uns nahe, Er wird uns auferwecken! Ich erkenne, und ich weiß
aus Erfahrung, dass das Reich Gottes in uns ist
. Jesus bedarf keiner
Bücher und Lehrer, um die Seelen zu unterweisen; Er, der Lehrer der
Lehrer, unterrichtet ohne den Lärm von Worten… Nie hörte ich
Ihn sprechen, aber ich fühle, dass Er in mir ist, jeden Augenblick,
Er leitet mich und gibt mir ein, was ich sagen oder tun soll (A 184/185).
Ich habe oft bemerkt, dass Jesus mir keine Vorräte geben will; Er
nährt mich jeden Augenblick mit einer ganz neuen Nahrung; ich finde
sie in mir vor, ohne zu wissen wie… Ich glaube ganz einfach, dass
Jesus selbst im Grunde meines armen, kleinen Herzens verborgen ist und
mir die Gnade erweist, in mir zu wirken, und dass Er mir alles eingibt,
was ich nach Seinem Willen im gegenwärtigen Augenblick tun soll
(A 167/168).
Mehr denn je verstehe ich, dass Er die Wünsche und die Erfüllung unserer Wünsche schenkt (Brief 201).
Thérèse macht sich zum Sprachrohr des heiligen Paulus:
Gott ist es, der in euch das Wollen und das Vollbringen bewirkt
(Phil
2,13). Das Wollen, diese Gabe Gottes, lebt schon seit langem in Thérèse.
Das Vollbringen als Geschenk Gottes erwartet sie jeden Tag von Ihm.
Und wie soll sie es vollbringen
? Ihr ganzes Programm findet sich in
ihrem Lieblingsbuch, dem Evangelium. Mein Weg ist ganz Vertrauen und
Liebe, ich verstehe die Seelen nicht, die vor einem so liebevollen Freund
Angst haben. Manchmal, wenn ich gewisse geistliche Abhandlungen lese, in
denen die Vollkommenheit durch tausenderlei Erschwerungen hindurch und
von einer Menge Illusionen umgeben beschrieben wird, ermüdet mein
armer, kleiner Geist sehr schnell. Ich schließe das gelehrte Buch,
das mir Kopfschmerzen verursacht und das Herz austrocknet, und greife zur
Heiligen Schrift. Dann erscheint mir alles voll Licht. Ein einziges Wort
erschließt meiner Seele unendliche Horizonte, die Vollkommenheit
erscheint mir leicht, ich sehe, dass es genügt, sein Nichts zu
erkennen und sich wie ein Kind Gott in die Arme zu werfen (Brief 226).
Wenn Thérèse nämlich das Evangelium liest, wird sie gleich von der Barmherzigkeit Gottes angerührt, die uns in Jesus geoffenbart worden ist. Ich brauche nur einen Blick in das heilige Evangelium zu werfen, und sogleich atme ich den Wohlgeruch des Lebens Jesu und weiß, nach welcher Seite ich laufen muss… Nicht zum ersten Platz, nein, zum letzten eile ich hin; statt mit dem PharisäerDie Pharisäer (hebr. für „die Abgesonderten”) waren eine theologische Ausrichtung im Judentum zur Zeit des zweiten jüdischen Tempels (ca. 530 v. Chr. bis 70 n. Chr.) und wurden danach als rabbinisches Judentum die einzige bedeutende überlebende jüdische Strömung. Im Neuen Testament werden die Vertreter der Pharisäer in polemischer Weise als Heuchler kritisiert und herabgewürdigt. Die Pharisäer hielten nicht nur die niedergeschriebenen Gesetze Mose' für verbindlich, sondern befolgten auch die mündlich überlieferten Vorschriften der Vorfahren. Sie glaubten an eine Auferstehung der Toten und einen freien Willen des Menschen. vorzutreten, wiederhole ich voll Vertrauen das demütige Gebet des Zöllners; vor allem aber ahme ich das Verhalten Magdalenas nach: ihre erstaunliche oder vielmehr liebende Kühnheit, die das Herz Jesu entzückt, reißt das meinige hin. Ja, ich fühle es, hätte ich auch alle Sünden auf dem Gewissen, die man begehen kann, ich ginge hin, das Herz von Reue gebrochen, um mich in die Arme Jesu zu werfen, denn ich weiß, wie sehr Er das verlorene Kind liebt, das zu Ihm zurückkehrt (C 274/275).
Mehr als einmal zitiert sie das Wort Jesu: Nicht die Gesunden brauchen
den Arzt, sondern die Kranken… Ich bin gekommen, um die Sünder zu
rufen, nicht die Gerechten
(Mt 9, 12-13). Ihr Rat an Céline klingt
wie eine Wiedergabe der Erzählung vom verlorenen Schaf: Fürchte
nichts, je ärmer Du bist, desto mehr liebt Dich Jesus. Er wird weit
gehen, sehr weit, um Dich zu suchen, wenn Du Dich manchmal ein wenig verirrst
(Brief 211).
Der Mensch ist für Gott ein Juwel!
Auf das, was Jesus in Célines Seele gewirkt hat, auf ihre Kleinheit, ihre Armut, ist Er stolzer als auf die Millionen Sonnen und die Weite des Himmels, die Er geschaffen hat!… (Brief 227).
Jesus gleicht Seinem Vater, Unserem
Vater, wie Er uns zu sprechen
gelehrt hat, was Thérèse mit Glück erfüllt. Eines
Tages kommt Céline zu Thérèse, die ganz gesammelt
beim Nähen ist.
- Woran denken Sie?, fragt Céline.
- Ich meditiere über das Vater unser, erwidert Thérèse. Es ist so schön, den lieben Gott Vater zu nennen!
Und in ihren Augen schimmern Tränen (MST 95).
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