Ökumenisches Heiligenlexikon

Mit leeren Händen

Die Botschaft der Thérèse von Lisieux

Ich selbst schaffe es nicht …

Ein Abend im Jänner 1895. Am dunklen Himmel funkeln die hellen Sterne. In Lisieux ist alles still. Die Armen wärmen sich am Holzfeuer, und in den Salons des Bürgertums werden Gesellschaftsangelegenheiten besprochen.

Schwester Thérèse hat sich in die schweigende Einsamkeit ihrer Zelle zurückgezogen. Ihr dicker Habit schützt sie ein wenig vor der Kälte. Sie sitzt auf einer kleinen Bank, die gemeinsam mit dem harten Bett - zwei Schragen, drei Bretter, ein Strohsack - ihre ganze Zelleneinrichtung darstellt.

Thérèse ist vor kurzem zweiundzwanzig Jahre alt geworden, und bald sind es sieben Jahre, dass sie im Kloster lebt. Die Jugendliche ist zur Frau geworden, mit derselben Begeisterung zwar, aber weiser und innerlicher. Ihr bleiben noch zweiunddreißig Monate zu leben. In ihrem Körper setzt die Tuberkulose heimtückisch ihr zerstörerisches Werk fort.

Thérèse ist eine glückliche Frau. Ihr Herz fließt über von Frieden, Freude und der Göttlichen Gegenwart. Die nüchterne Einsamkeit am Beginn dieses eisigen Abends hat etwas Feierliches an sich. Der kleine Raum ist erfüllt von Gott.

Auf ihren Knien hält sie ein kleines, tragbares Pult und schreibt ihre Jugenderinnerungen nieder. Schwester Agnès, die derzeitige Priorin, hat sie darum gebeten. Nach einigem Zögern, ob ihre Arbeit nutzbringend sei, hat Thérèse sich ganz einfach ans Werk gemacht.

Was sie nun schreiben will, ist weniger ihr Leben, als die Rolle, die der Viel-Geliebte in ihrem Abenteuer der Liebe spielt. Sie will im Grunde nicht so sehr von konkreten Fakten, sondern von der Güte Gottes sprechen, von der Gnade Gottes, die durch alle Ereignisse ihres Lebens hindurchscheint. Ihre Berufung, ihr Leiden und ihre Kämpfe - ihr ganzes Leben steht unter dem Zeichen des Mysteriums. Seit kurzem trägt dieses Geheimnis einen Namen: Barmherzigkeit.

Ich stehe in einem Abschnitt meines Lebens, von dem aus ich einen Blick in die Vergangenheit werfen kann; meine Seele ist im Schmelztiegel äußerer und innerer Prüfungen reifer geworden; wie die Blume nach stärkendem Gewitterregen richte ich mich jetzt auf und sehe, dass sich die Worte des 23. Psalms an mir erfüllen. Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen. Er läßt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser. Er führt meine Seele, ohne sie zu ermüden… muss ich auch wandern in finsterer Schlucht, ich fürchte kein Unheil, denn Du, Herr, bist bei mir! (A 6).

Die junge Ordensfrau hält einen Augenblick inne. Das gelbliche Licht der Petroleumlampe tanzt leise auf den kahlen Wänden der Zelle. Thérèses Augen gleiten sinnend die weiße Wand entlang. Erinnerungen … Alles ist so schnell gegangen. Wie in einem Film kommt ihr die Vergangenheit wieder in den Sinn …

In der Schule des Leidens

Thérèse sieht sich wieder, wie sie in die Wüste des Karmel eintritt, an jenem 9. April 1888, beseelt von unermeßlicher Freude. Die Schwestern heißen sie willkommen. Hinter ihnen, unsichtbar, befindet sich ein anderer Gastgeber: das Leiden.

Ja, das Leiden streckte seine Arme nach mir aus, und ich warf mich voll Liebe hinein… Will man ein Ziel erreichen, so muss man die Mittel dazu ergreifen; Jesus ließ mich verstehen, dass Er mir durch das Kreuz Seelen schenken wolle, und die Anziehungskraft des Leidens wuchs für mich in dem Maß, wie das Leiden zunahm. Fünf Jahre lang war das mein Weg, doch nach außen hin verriet nichts mein Leiden, das umso schmerzhafter war, weil ich allein darum wußte (A 153/154).

Worin bestand nun diese lange Leidenszeit? Thérèse denkt zunächst nicht an die äußere Loslösung, zu der das Leben im Karmel sie zwingt, sie, die so jung ist und körperlich gar nicht kräftig: an die Abgeschiedenheit, die Abtötung beim Essen, die begrenzte Schlafenszeit, die Armut der Zelle, das Fehlen einer Heizung. Das nimmt sie alles gern an, sie wollte es ja. Man spürt, dass man da etwas schenken kann, und für eine Novizin in ihrem ersten Schwung ist dieses Gefühl, etwas zu leisten, ein Faktor der Ermunterung und oft auch eine notwendige Phase bei der Eingewöhnung: man erwartet viel Gutes davon, es ist wie ein Trumpf, den man in der Hand hält, es gibt einem innere Freude und den Eindruck, sicher auf dem Weg zu Gott zu sein. Sogar bei Thérèse sehen wir zu Beginn eine gewisse Überschätzung der Abtötung, aber ihre Vorgesetzten erlauben ihr keine übermäßigen Bußübungen (A 165). Es schüttelt einen allerdings, wenn Thérèse erklärt, daß ihr in den kalten Winternächten der Normandie sterbenselend (Apostol. Prozeß 830) zumute war.

Ein größeres Leiden bringen für sie die zwischenmenschlichen Beziehungen mit sich. Das enge Zusammenleben ist nicht immer einfach: dieselben Personen, dieselben Gesichter, ein ganzes Leben hindurch… Marthe, die Mitnovizin von Thérèse, ist nicht einfach, sie lehnt sich gern auf. Zwei Jahre lang plagt sich Thérèse mit ihrer Novizenmeisterin, Marie von den Engeln, die mild ist und von guten Ratschlägen überfließt, mit der die junge Thérèse aber beim besten Willen der Welt nicht über ihr inneres Leben sprechen kann.

Und dann sind da ihre eigenen Schwestern: Agnès und Marie. Thérèse liebt sie zärtlich, will und kann aber die Familienbande mit ihnen nicht aufrechterhalten.

Keineswegs um mit meinen Schwestern zusammenzuleben, bin ich in den Karmel gekommen, sondern ausschließlich, um dem Ruf Jesu zu folgen. Oh! Ich ahnte wohl, dass dieses Zusammenleben mit den eigenen Schwestern eine Quelle ständiger Leiden sein müsse, wenn man der Natur in nichts nachgeben will (C 225).

Und vor allem gibt es da Marie de Gonzague, die mit einer Unterbrechung von drei Jahren während des ganzen Ordenslebens von Thérèse ihre Priorin sein wird. Sie kann wirklich liebenswürdig sein, und an diesen Tagen faßt Thérèse beinahe Zuneigung zu ihr, aber meistens ist die Priorin ziemlich launenhaft und argwöhnisch, sie mißtraut den Martin-Schwestern leicht, vor allem Agnès, die sehr begabt ist und deren moralischer Einfluß in der Kommunität zunimmt. Die fünf Leidensjahre, von denen Thérèse spricht, fallen genau in diese erste Amtsperiode von Marie de Gonzague. Sehr klug schreibt Thérèse:

Unsere Mutter, die oft krank war, hatte wenig Zeit, sich mit mir zu befassen. Ich weiß, dass sie mich sehr gern hatte und alles nur mögliche Gute über mich sagte, doch der liebe Gott ließ es zu, dass sie, ohne es zu wissen, sehr streng war. Ich konnte ihr nicht begegnen, ohne den Boden zu küssen, und nicht anders war es bei den seltenen Aussprachen, die ich mit ihr hatte… Welch unschätzbare Gnade!… Was wäre aus mir geworden, wenn ich, wie die Leute von draußen glaubten, das Spielzeug der klösterlichen Gemeinschaft gewesen wäre?… (A 153).

In einem späteren Abschnitt, der sich an Marie de Gonzague wendet, erinnert Thérèse sie an ihre starke und mütterliche Erziehung (C 212).

Aber meist gewinnt die harte Seite die Oberhand: Das ist die tagtägliche Wolke am Himmel! Eines Tages gesteht Thérèse einer Schwester:

Ich kann Ihnen versichern, dass ich viele Kämpfe auszufechten hatte und dass es keinen Tag gab, an dem ich nicht litt, keinen einzigen! (Apostololischer Prozeß).

Aber sie beklagt sich nicht gern, und sie verbreitet sich über diesen Gegenstand weniger, als wir es uns vom hagiographischen Standpunkt aus gewünscht hätten:

Alles, was ich eben in kurzen Worten berichtet habe, hätte eigentlich viele Seiten voller Einzelheiten erfordert, aber diese Seiten werden auf Erden nie gelesen werden (A 166).

Und sie fertigt uns liebenswürdig ab, indem sie uns etwas boshaft auf das Ende der Welt verweist (A 154).

Beten: die schwierige Aufgabe

Die fruchtbaren Gebetsstunden der Gotteserfahrung, die Thérèse vor ihrem Eintritt erlebt hatte, hatten unleugbar ihre Sehnsucht nach Einsamkeit verstärkt. Dort könnte sie dann mit Gott leben, ohne gestört zu werden, frei von aller Sorge, ausgenommen der, in einer von den Einflüssen der Welt ungestörten Beschauung zu lieben.

Aber die Dinge nehmen eine völlig andere Richtung. So tröstlich ihr Gebet in der Welt war, so trocken und zerstreut ist es in den langen Betrachtungsstunden im Kloster. Ich will sie in die Wüste hinaus führen und sie umwerben (Hos 2,16): aber nun, wo Thérèse sich in der Wüste befindet, läßt der Bräutigam so wenig von sich hören…

Thérèse gesteht:

Die Trockenheit war mein tägliches Brot (A 162), ich hatte darüber zu klagen, dass ich seit sieben Jahren bei meinen Betrachtungen und meinen Danksagungen schlief (A 167).

Ihre jährlichen Exerzitien sind, soweit dies möglich ist, noch trockener (A 167). Jesus schlummerte wie üblich in meinem kleinen Nachen (A 167).

Für eine junge Karmelitin, die durch ihre Lebensform berufen ist, stets die Gegenwart des Herrn zu suchen, bedeutet diese unerwartete Situation einen harten Schlag, der sie aus der Bahn wirft. In den Augen einer Novizin ist der Erfolg im Gebet oft eine Art Barometer. Und das Beispiel ihrer beiden bedeutenden Vorgänger im Karmel, Teresa von Avila und Johannes vom Kreuz, die so große mystische Gnaden empfingen, musste bei Thérèse die Gewissensfrage nach dem Großmut ihrer Hingabe aufwerfen.

Wenn Thérèse ihre Trockenheit ihrem Mangel an Eifer und Treue (A 167) zuschreibt, ist dies objektiv gesehen, schlichtweg falsch. Aber vom subjektiven Standpunkt Thérèses aus können wir diese Aussagen nicht ganz als bloß demütige Formeln abtun. Thérèse ist sich ihrer tiefen Armut bewußt und muss lernen, mit ihr zu leben. Sie muss geduldig neue innere Haltungen einüben, ein Prozeß, der sich über Jahre dahinzieht.

Für das Wachsen ihrer Liebe sind diese Prüfungen schließlich fruchtbringend. Sie begünstigen das Kleinwerden wie ein Sandkorn in der Wüste sehr. Sie zerstören ihre Liebe nicht, sondern regen ihren Durst noch an. Meine Seele dürstet nach Dir; nach Dir schmachtet mein Fleisch, wie dürres, lechzendes Land ohne Wasser (Ps 63,2). Thérèses Großmut erhält ein neues Gesicht: Jesus lehrt sie, wie sie Ihm gefallen und die höchsten Tugenden üben könne (A 167).

Nach und nach wachsen die Demut, die Loslösung, das Vertrauen und die Hingabe. Thérèse lernt es, mit Fügsamkeit zu reagieren, und stützt sich dabei auf einen wachen Glauben und eine aufrichtige Liebe, die nicht auf das eigene Interesse schaut.

Heute war ich noch mehr als gestern, wenn das möglich ist, ohne jeden Trost. Ich danke Jesus, der dies für meine Seele gut findet. Vielleicht würde ich, wenn Er mich tröstete, in diesem Glück verharren, aber Er will, dass alles für Ihn sei! … Oh ja, alles wird für Ihn sein, alles, selbst dann, wenn ich nichts fühle, das ich Ihm schenken kann. Dann gebe ich Ihm, wie heute abend, dieses Nichts! …(Brief 76).

Wenn Sie wüßten, wie groß meine Freude darüber ist, keine Freude zu haben, um Jesus Freude zu machen! … Es ist eine geläuterte Freude, aber keineswegs fühlbar (Brief 78).

Nach zweieinhalb Ordensjahren darf Thérèse schließlich am 8. September 1890 ihre Gelübde ablegen! Während ihrer - sehr trockenen - Vorbereitungsexerzitien schreibt sie Schwester Agnès einen Brief, der uns einen tiefen Einblick in ihre innere Haltung in dem Moment gewährt, in dem sie sich an der Schwelle zu ihrem endgültigen Entschluß befindet.

Die kleine Einsiedlerin muss Ihnen ihren Reiseweg angeben. Hier ist er: Vor der Abreise schien ihr Bräutigam sie zu fragen, in welches Land sie reisen und welchen Weg sie einschlagen wolle usw… Die kleine Braut erwiderte, sie habe nur einen Wunsch, den Gipfel des Berges der Liebe zu ersteigen. Um dorthin zu gelangen, boten sich ihr viele Wege an. Es gab darunter so viele vollkommene Wege, dass sie sich außerstande sah zu wählen. So sagte sie zu ihrem göttlichen Führer: Du weißt, wohin ich gehen will, Du weißt, für wen ich den Berg ersteigen will, für wen ich das Ziel erreichen will. Du weißt, wen ich liebe und wen ich allein zufriedenstellen will. Für Ihn allein unternehme ich diese Reise. Führe mich also auf den Wegen, die Er gerne geht. Wenn Er nur zufrieden ist, dann bin ich vollauf glücklich. Da nahm Jesus mich bei der Hand; Er ließ mich in einen unterirdischen Gang eintreten, wo es weder kalt noch warm ist, wohin kein Sonnenstrahl dringt, weder Regen noch Wind. Ein unterirdischer Gang, wo ich nur gedämpftes Licht sehe, das Licht, das die gesenkten Augen im Antlitz meines Bräutigams ausstrahlen! … Mein Bräutigam sagt nichts zu mir, und ich sage nichts zu Ihm, außer dass ich Ihn mehr liebe als mich selbst, und im Grunde meines Herzens spüre ich, dass das wahr ist, denn ich gehöre mehr Ihm als mir! … Ich sehe nicht, dass wir zur Bergspitze voranschreiten, weil unsere Reise unterirdisch vor sich geht, und dennoch scheint es mir, dass wir uns ihr nähern, ohne zu wissen wie. Der Weg, dem ich folge, hat keinerlei Trost für mich, und dennoch bringt er mir allen Trost, weil Jesus ihn ausgewählt hat und ich das Verlangen habe, Ihn allein zu trösten, Ihn allein! (Brief 110).

Wir bemerken bei Thérèse immer die Überzeugung, dass die treue Liebe sie zum Gipfel des Berges führen wird, ohne dass sie jetzt genau weiß wie. Der Weg bleibt im Dunkeln, aber lieben bedeutet für sie, die Hand des Herrn zu ergreifen und sich von Ihm führen zu lassen.

Hier ist etwas im Werden! Es wird offenkundig, dass die Bereitschaft zur Hingabe wächst, die gegen Ende 1894 dann in der Entdeckung ihres endgültigen kleinen Weges gipfelt. Da erfährt sie, dass der Herr sie auf Seinen Armen trägt und sie zum Gipfel emporhebt (C 215).

Das schwerste Kreuz, das ich mir je hätte vorstellen können

Eine noch größere Prüfung führt Thérèse notwendigerweise zu einem wachsenden Verzicht: das schmerzliche Siechtum von M. Martin, das wie ein Schwert das Herz seiner jüngsten Tochter durchdringt.

Kaum ist Thérèse in den Karmel eingetreten, als sich schon die ersten Anzeichen eines Verfalls des Vaters bemerkbar machen. Der alte Mann ermüdet mit seinen fünfundsechzig Jahren rasch. Arteriosklerose und andere Krankheiten haben bei ihm katastrophale psychische Folgen. Drei Monate nach dem Eintritt Thérèses in den Karmel findet sich ihr Vater überhaupt nicht mehr zurecht und verläßt einfach das Haus. Wo ist er? Lebt er noch? Hat er möglicherweise…? Bei den Seinen herrscht tödliche Ungewißheit… Seine drei Töchter im Karmel hören den Bericht über die vergebliche Suche bangen Herzens mit an … Man ist völlig ohnmächtig … Thérèse kann nur ihren Blick zum gekreuzigten Jesus emporheben. Vier Tage später wird M. Martin in Le Havre gefunden.

Neuerliche Krankheitsschübe lassen ein Hinauszögern der Einkleidung Thérèses um einige Monate angebracht sein. Vielleicht wird alles wieder gut? Die Anwesenheit dieses tiefgläubigen Menschen bei der Zeremonie am 10. Jänner 1889 ist für Thérèse ein Sonnenstrahl an ihrem dunklen Himmel!

Niemals war mein geliebter König schöner, würdiger gewesen… Alle bewunderten ihn, dieser Tag war sein Triumph, sein letztes Fest auf Erden (A 159).

M. Martin geht es nicht gut. Oft redet er verwirrt, seine finanziellen Unternehmungen sind fraglich. Die Möchtegern-Psychiater raunen sich zu, dass der Weggang Thérèses, seines Augapfels, der Grund seiner Krankheit ist. Thérèse spürt diese Nadelstiche … Die Welt bedeutet ihr nichts mehr, wie könnte es auch anders sein… Sie leidet bitter … So schreibt sie an Céline:

Jesus ist da mit Seinem Kreuz! … Was sind für uns die Dinge dieser Welt … Wäre das unsere Heimat, dieser Lehm, der einer unsterblichen Seele so unwürdig ist … Und was geht es uns an, dass schwächliche Menschen den Schimmel herunterschneiden, der auf diesem Lehm wächst. Je mehr unser Herz im Himmel ist, desto weniger fühlen wir diese Nadelstiche… Ja, unser Leben ist ein Martyrium, und eines Tages wird uns Jesus die Palme reichen. Leiden und verachtet sein! Welche Bitternis, aber auch welche Herrlichkeit! (Brief 81).

Das Drama steuert auf den Höhepunkt zu …

M. Martin hat neuerlich Wahnvorstellungen und verbarrikadiert sich mit einem Revolver bewaffnet zu Hause. Man fürchtet für das Leben seiner beiden Töchter Céline und Léonie, die sich mit einer Hausangestellten auch in dem Haus befinden. Isidore Guérin kommt, um gemeinsam mit einem Freund seinen Schwager zu entwaffnen, der dann noch am selben Tag in eine psychiatrische Anstalt in Caen eingeliefert wird… Wir schreiben den 12. Februar 1889… Unser großer Reichtum, notiert Thérèse später auf einer Liste, die sie über ihre Tage der Gnade erstellt (A 185).

Aber am Tag selbst durchbohrt ein Schwert ihr Herz!

Ach, an jenem Tag sagte ich nicht mehr, dass ich noch mehr leiden könne!!! … Worte können unsere Herzensangst nicht wiedergeben, … so will ich auch nicht versuchen, sie zu beschreiben… Unser geliebter Vater trank den bittersten, den demütigendsten Kelch (A 161).

Und Thérèse mit ihm! Bis zur Neige … Gemeinsam mit seinem Vater fühlt das Sandkorn sich mit Füßen getreten, gedemütigt, vernichtet.

Ihr edler König, verrückt … Er wird zum Stadtgespräch. Und seine Familie mit ihm … Die öffentliche Meinung des 19. Jahrhunderts über diese Kranken war recht grausam. Thérèse denkt an die Zwangsmethoden, die zu dieser Zeit angewendet werden. In der Ferne, allein in dieser Anstalt (so wie sie in ihrem Kloster), ist ihr Vater fremden Händen anvertraut. Und dabei hat er fünf Töchter … Was für ein Leid bedeutet dies für Thérèse! Wie blutet da ihr Herz!

Sie schreibt zwei Wochen später:

Jesus ist ein Blutbräutigam. Er will das ganze Herzblut für sich (Brief 82) … Dieses Kreuz war das schwerste, das ich mir je hätte vorstellen können (Brief 155).

M. Martin wird mehr als drei Jahre in der Anstalt in Caen bleiben. Einige Monate später werden die Buissonnets aus ihrem Haus gewiesen werden. Andere Leute werden darin wohnen. Von Thérèses Jugend bleibt nichts mehr übrig.

Unserer Meinung nach lassen die Schriften von Thérèse, wenn man zwischen den Zeilen liest, noch auf einen anderen Kampf schließen: ihre Ratlosigkeit bezüglich Gott. Was da gerade geschehen ist, ist so bestürzend und so verwirrend …

Für Thérèse war die Erfahrung eines guten, frommen und weisen Vaters ein sehr wichtiges Element bei der Erstellung des Bildes, das sie als Kind von Gott hatte, und auch noch in ihrem sechzehnten Lebensjahr. Papa war ein Abbild Gottes. Als Kind brauchte Thérèse ihn nur anzuschauen, um zu wissen, wie die Heiligen beten (A 39).

Weniger als ein Jahr zuvor stellte sie noch fest, wie sich seine Augen während seiner täglichen Besuche des Allerheiligsten oft mit Tränen füllten und sein Antlitz himmlische Seligkeit atmete (A 158).

Und vom Karmel hat sie gerade noch geschrieben:

Wenn ich an Dich denke, mein geliebtes Väterchen, dann denke ich ganz von selbst an den lieben Gott (Brief 58).

Und dann macht M. Martin plötzlich so sinnlose, verworrene und verrückte Sachen… Der Spiegel Gottes zersplittert in tausend Stücke. Plötzlich wird Gott so anders, fremder, unverständlicher …

Notwendigerweise wird die Sechzehnjährige mit Seinem Mysterium konfrontiert … Und notgedrungen steigen bei einer kleinen Denkerin, wie Thérèse es ist, in der Einsamkeit ihres Karmel und unter dem übergroßen Leidensdruck die ewigen Fragen auf - selbst wenn sie versucht, sie zu unterdrücken. Warum läßt Gott das zu? (Er, der so gut ist …) Ist das gerecht bei einem, der Gott so treu gedient hat (in jedem Menschen verbirgt sich ein fragender Hiob …), wo doch Thérèse so viel gebetet hat, so glühend und so vertrauensvoll? (Der Mißerfolg ihres Gebetes… Auf welche Weise erhört uns Gott?) Natürlich sagt man - und Thérèse sagt es selbst auch oft und mit viel Nachdruck -, dass das Leid eine besondere Gunst für jene ist, die Gott besonders liebt, und dass im Himmel alles vergolten und belohnt würde. Aber gibt es überhaupt einen Himmel?

Daß in Thérèse diese Frage hochgekommen ist, ist keine bloße Annahme von uns. (Die Frage wird übrigens in den beiden letzten Jahren ihres Lebens häufig auftauchen, zu einem Zeitpunkt also, da Thérèse eine Meisterin im Glauben geworden ist!) In ihrer Autobiographie hüllt sie absichtlich diese Periode, in der ihr Vater sich in der psychiatrischen Anstalt befindet, in großes Schweigen, aber dennoch entschlüpft ihr so nebenbei ein bedeutungsvoller Satz:

Ich hatte damals große innere Prüfungen aller Art (die so weit gingen, dass ich mich manchmal fragte, ob es einen Himmel gäbe) (A 177).

In Thérèses Briefen merkt man, wie heftig sie sich wehrt. Die Rede vom Kampf ist hier auf eine frappierende Weise gegenwärtig. Mehr denn je beharrt sie auf ihrem Glauben, ohne zu sehen und ohne zu verstehen. Sie erklärt sich in der Treue zu Jesus für jedes Leiden bereit. In ihren Briefen merkt man manche Verkrampfung. Wie könnte es auch anders sein? Die Zeit ist hart, es heißt zu kämpfen, und sie ist kaum sechzehn, siebzehn Jahre alt… Sie erholt sich nur schmerzlich, sehr schmerzlich von dem schweren Schlag (Brief 94).

Aber so wie Jesus durch Sein Leiden den Gehorsam gelernt hat (Heb 5,8), so reift auch Thérèse in demselben Schmelzofen (A 6). Aus dem Sumpf sprießen seltene Blumen: Demut, Loslösung, Vertrauen, Hingabe - wir haben darüber bereits im Zusammenhang mit dem Gebet gesprochen, und mehr denn je wird das Gebet in diesem neuen Leiden notwendig.

Thérèse wird später rückblickend schreiben:

Ja, diese drei Leidensjahre Papas erscheinen mir als die liebenswertesten, die fruchtbarsten unseres ganzen Lebens; ich würde sie nicht für alle Ekstasen und Offenbarungen der Heiligen eintauschen, mein Herz fließt über vor Dankbarkeit, wenn ich an diesen unermeßlichen Schatz denke (A 161).

Der neue Spiegel Gottes

Thérèses Wachstum ist auch vom theologischen Standpunkt aus überraschend. Nachdem der frühere Spiegel Gottes zerbrochen ist, entdeckt sie, noch intensiver und noch klarer als zuvor, einen anderen Spiegel Gottes, den wahren Spiegel Gottes: Jesus, den Gesandten des Vaters. Denn Jesus, der Auferstandene, hat zuerst gelitten! Während ihrer großen und verwirrenden Prüfung wird Thérèse das Heilige Antlitz des Herrn zu entdecken lernen. So als ob sie ihre Zukunft vorausgeahnt hätte, hatte die Karmelitin bei ihrer Einkleidung ihrem Namen Thérèse vom Kinde Jesu noch die Worte vom Heiligen Antlitz hinzugefügt. Von nun an werden die Nachfolge und das Ähnlichwerden zwei Kraftlinien sein, die sie noch mehr mit dem leidenden Jesus vereinen. Jesus lehrt sie, bis wohin die Treue und die Liebe gehen können. Zwei Monate nach dem schlimmen Schlag von Caen schreibt Thérèse an Céline:

Um die Braut Jesu zu sein, muss man Jesus ähnlich sein. Jesus ist blutüberströmt, Er ist mit Dornen gekrönt! … Jesus brennt vor Liebe zu uns … Schau Sein anbetungswürdiges Antlitz!… Schau diese erloschenen und gesenkten Augen! Schau diese Wunden … Schau Jesus ins Antlitz! … Da wirst Du sehen, wie Er uns liebt (Brief 87).

Ja, Jesu Antlitz ist strahlend, doch wenn es schon inmitten von Verwundungen und Tränen so schön ist, wie wird es erst sein, wenn wir es im Himmel erblicken?… Oh der Himmel… der Himmel! (Brief 95).

Zu diesem Zeitpunkt ergründet Thérèse den Reichtum der im Heiligen Antlitz verborgenen Schätze… die Geheimnisse der Liebe, die im Antlitz unseres Bräutigams verborgen sind (A 157).

Im Lauf des Sommers 1890 zitiert sie erstmals des langen und breiten die Kapitel 53 und 63 bei Jesaja, im Hinblick auf das verborgene Antlitz des Schmerzensmannes, der unsere Schmerzen getragen hat, der allein die Kelter trat und dabei um sich sah, ob Ihm niemand helfe (Brief 108).

Immer mehr wird sich Thérèse der Heiligen Schrift öffnen. Jesus ist nicht mehr nur ihr Vorbild und ihre Liebe, sondern auch ihre Wahrheit und ihr Lebensinhalt. Thérèse war getauft und im Glauben erzogen worden. Dieser Glaube wurde durch den Unterricht gestärkt und durch die Lesung vor allem der Nachfolge Christi und des Buches von Arminjon über das Ende der gegenwärtigen Welt und die Geheimnisse des zukünftigen Lebens genährt. Während der Krankheit ihres Vaters tritt Thérèse in eine dritte Phase ein: in den Übergang von einem traditionellen zu einem persönlich vollzogenen und verantworteten Glauben.

Als Thérèse nun mit dem großen Leid der anderen und ihrem eigenen konfrontiert wird, erwachsen aus dieser existentiellen Situation die ewig gleichen Fragen des Menschen. Nicht, dass Thérèse sich diese systematisch stellt, nein, diese Fragen drängen sich ihrem Geist in diesem leidensvollen Leben in den tiefsten Schichten ihres Wesens ganz spontan auf, auch wenn sie sie sogleich fallen läßt und auf die gängigen Antworten zurückgreift.

Nun wird die Antwort aus dem Glauben, die sie im allgemeinen und mit Recht annimmt, von ihr persönlich begründet und gutgeheißen. Thérèse ist eine kleine Denkerin. Worte wie suchen, finden und verstehen gehen ihr leicht von den Lippen, genau 46, 137 und 144 Mal, allein in ihrer Autobiographie. Sie hat einen lebhaften, kritischen Geist. Die kleine Tochter der Normandie will die Katze nicht im Sack kaufen! Die Natur ihrer realistischen Intelligenz fordert ernsthafte Gründe, ehe sie das Übernatürliche annehmen kann. Die Fragen der modernen Zeit beschäftigen auch sie.

Wir befinden uns in einem Jahrhundert der Erfindungen (C 214), schreibt sie. Allgemeinplätze interessieren sie nicht, sie durchschaut, wie bedeutungslos unbegründete Antworten sind, für sich selbst hat sie bereits den Einwand parat. Es sind die Überlegungen der schlimmsten Materialisten, die mir in den Sinn kommen, vertraut sie kurz vor ihrem Tod Agnès an. Sie weiß genau: Später wird die Wissenschaft, da sie ständig neue Fortschritte macht, alles als natürlich erklären, man wird von allem, was existiert, den absoluten Grund kennen, und auch von allem, was noch ein Problem bleibt, denn es gibt noch vieles zu entdecken, usw. Gar nicht dumm, diese Thérèse Martin!

Vor ihrem sechzehnten Lebensjahr hatte sie die im Evangelium verborgenen Schätze (A 100) noch nicht gefunden. Einige Jahre später wird sie sagen können:

Im Evangelium finde ich alles, was meine arme, kleine Seele braucht. In ihm entdecke ich immer neue Klarheiten, verborgene und geheimnisvolle Bedeutungen … (A 184).

Hier schlägt sie feste Wurzeln. Sie begreift dies intuitiv: wie wären diese ersten Zeugen, intelligente und kritische Männer wie Matthäus, Lukas, Johannes, Paulus (als Juden und wahre Monotheisten!) zu einem Glauben an Jesus als ihren Herrn und Sohn Gottes gelangt, wenn sie nicht tragende Motive gehabt hätten? Thérèse selbst ist für die wunderbaren Zeichen, die Jesus ihr gibt und auf die sie sich gern in ihren Schriften beruft, immer sehr aufgeschlossen; so auch für das größte Zeichen, die Auferstehung Jesu, das Zeichen schlechthin, das der Vater gegeben hat, gleichsam die Unterschrift, die Gott unter die Botschaft Jesu zum Beweis für deren Echtheit gibt. Ein Jahr vor ihrem Tod wird Thérèse sogar eine persönliche Schriftkonkordanz über die Auferstehungsberichte zusammenstellen!… Sie hat das Evangelium studiert!

Thérèse ist eine aufrichtig Suchende. Jesus, Du weißt, daß ich die Wahrheit suche (B 203). Wenige Stunden vor ihrem Tod wird sie sagen: Ja, mir scheint, ich habe nichts als die Wahrheit gesucht (IGL 228). Da Gott, der alles Irdische übersteigt, in Jesus ein Wort zu uns gesprochen hat, hört sie auf dieses Wort. Und wenn es zu antworten gilt, ist sich Thérèse ihrer Verantwortung bewußt und gibt ihre Antwort, wobei sie sogar bis zum Äußersten geht: Lieben, das heißt, alles schenken, ja sich selbst schenken (P 54).

Thérèse hat das Dunkel des Glaubens gekannt, aber sie ist ihrem Glauben niemals untreu geworden. Die Nacht konnte einfallen, ein Gewittersturm beginnen, immer gab es für sie als gegebene Tatsache Jesus, Er war ihr ganzer Halt. Ich laufe zu meinem Jesus (C 222), sagte sie.

Als sie diesen Satz niederschrieb, besaß sie bereits eine große Erfahrung Seiner Gegenwart und Seines Handelns an ihr. Sie konnte Ihn also ganz einfach nicht mehr verlassen… Aber während der Krankheit ihres Vaters (wir kommen auf diese Periode zurück) hat sie noch nicht diese Überfülle an Gottes Selbstoffenbarung erhalten. Sie ist allerdings auf dem besten Weg dazu. In ihrem großen Kummer entdeckt sie das Antlitz Jesu und betrachtet es sehr oft. Hier sieht sie, dass der Vater Seinen vielgeliebten Sohn vom Leiden und vom Tod nicht verschont hat. Jesus hat Sein Leiden in Liebe auf sich genommen, und der Vater ließ das Leben im Tod aufbrechen. Für Thérèse wird so das unbegreifliche Geheimnis des Todes nicht mehr gänzlich sinnlos sein und auch nicht im Widerspruch zur Güte des Vaters stehen. Jesus wird für sie zum Beweisstück und Sein Wort zu ihrer starken Gewißheit. Schließlich behauptet sie ja nicht, es besser zu wissen als Er … Von nun an ist ihr Glaube wahrhaft christlich.

Thérèse ist ein für unsere Zeit sehr interessanter Mensch, da sie mit unseren Fragen vertraut war und auch die jeweilige Antwort darauf gefunden hat. Aber diese tausenderlei Fragen und Versuchungen führen bei ihr zu keinem einzigen echten Zweifel. Niemals hat sie die Hand Jesu ausgelassen. Wenn sie ihre Glaubensnacht beschreibt, dann spricht sie schon von Gewitter (B 195), Dunkelheit, Kampf, Qual, Prüfung, Tunnel, Nebel, Mauer (C 219-212), selbst von Versuchungen (C 235), aber niemals von Zweifel. Wenn sich ihrem Intellekt eine Frage stellt, so bedeutet das nicht, dass sie im Innersten ihres Wesens daran zweifelt, daß Gott für sie eine Antwort bereit hat oder dass Er ihr nicht einen Ausweg zeigen wird.

Daher hat sich Thérèse niemals, um es einmal so zu sagen, aufgelehnt. Jedesmal hat sie in Gott und im Glauben an Ihn den Frieden, … der auch in den größten Prüfungen nicht von mir gewichen ist, (A 184) wiedergefunden. Aber, so fügt sie hinzu, wer Frieden sagt, sagt nicht Freude, oder zumindest nicht fühlbare Freude (Brief 87).

Nicht jeder Christ muss unbedingt solche Glaubensnöte durchmachen wie Thérèse. Er muss sich auch nicht immer auf eigene Faust auf die Suche machen. Da wir uns am Wort Jesu festhalten können, können wir uns auch auf die Glaubenden stützen, die uns vorangegangen sind, auf den Glauben der Kirche, auf den Glauben Marias z. B. und der großen Heiligen, wie Thérèse. Das ist ein Vorteil, den wir in der Kirche haben. Ich liebe die Kirche, sagte Thérèse (B 203). Auf unserem persönlichen Weg können wir uns das Licht, das uns von anderen her kommt, zunutze machen!

Die unlösbare Aufgabe

Dieses junge Mädchen von sechzehn, siebzehn Jahren ist nicht nur auf dem besten Weg, eine große Glaubende zu werden, sie ist bereits eine leidenschaftlich Liebende! Wenn sie Jemanden liebt, schenkt sie sich ganz!

Als sie ihr Elternhaus verließ, hatte sie ein klares Ziel vor Augen:

Ich will eine Heilige sein. Vor kurzem las ich Worte, die mir sehr gefallen. Ich erinnere mich nicht mehr, welcher Heilige sie gesagt hat; es war: Ich bin nicht vollkommen, aber ich will es werden (Brief 45).

Und Thérèse unterstreicht ich will!

In ihren Briefen aus den ersten Monaten ihres Ordenslebens kehren stets die gleichen Wendungen wieder: eine Heilige werden, eine große Heilige (Brief 52, 72 80). Die Priorin, Marie de Gonzague, schüttet noch Öl ins Feuer, indem sie auf Théresès Namenspatronin anspielt: Sie sollen eine zweite heilige Teresa werden! Thérèse teilt ihrer Schwester Céline mit, was sie darüber denkt:

Was Céline vielleicht nicht kennt, ist Jesu Liebe zu ihr, eine Liebe, die alles verlangt. Nichts ist ihr unmöglich. Sie will der Heiligkeit ihrer Lilie keine Grenzen setzen. Die Grenze Seiner Liebe ist, dass sie keine hat … Wir sind größer als das ganze Weltall (Brief 83).

Was bedeutet das: heilig werden? Wie könnte Thérèse es anders sehen als ein Ja ohne Einschränkungen gegenüber den radikalsten Forderungen der Liebe, egal welchen auch immer? Auch hierüber spricht sie wieder zu Céline:

Jesus verlangt von Dir alles, alles, alles, ebensoviel, wie Er von den größten Heiligen verlangen kann.

Und sie unterstreicht das dreimalige alles, jeweils zwei, drei und fünf Mal (Brief 57).

Aber weiß sie überhaupt, was das bedeutet: alles geben? Man kann sich das alles voller Begeisterung gut ausmalen, aber wenn die Forderungen der Liebe wie Wellen unaufhörlich heranbranden, dann fühlt man sich sehr schnell arm und bloß - selbst wenn man eine künftige heilige Thérèse von Lisieux ist … Jesus ist nicht gekommen, um den Frieden zu bringen, sondern das Schwert (Mt 10,34) und das tägliche Kreuz (Lk 9,23). Der Schüler steht nicht über seinem Meister (Mt 10,24)(vgl. Brief 57), der in Seiner Angst Blut schwitzte, als Er das Leiden und den Tod nahen sah (Lk 22,44).

Weiß die junge Thérèse Martin um ihre Verwegenheit, als sie schreibt: Es ist unglaublich, wie groß mir mein Herz erscheint, wenn ich all die Schätze der Erde betrachte, weil ich sehe, dass alle zusammen es nicht zufriedenstellen könnten. Aber wenn ich Jesus betrachte, wie klein kommt es mir dann vor!… Ich möchte Ihn so sehr lieben! … Ihn mehr lieben, als Er je geliebt wurde! (Brief 74).

Also eine Art Weltrekord in der Liebe zu Gott! Wie wir gesehen haben, um die Leistung in der Liebe einer Teresa von Avila zu erreichen und sie, wenn möglich, noch zu verbessern. Ein heiliger Wettstreit auf höchster Ebene! Die Konfrontation Davids mit dem Riesen Goliath, wo die heilige List des Kleinen die fehlende Kraft ersetzen musste!

Der Zustand großen Leidens, in dem sich Thérèse bald befinden wird, wird ihr ihre Grenzen aufzeigen. Aber im Moment betrachtet sie ihre Schwäche und ihr Fallen eher als ein Mehr an Leiden, das eine Art Privileg darstellt und ihr so erlaubt, Gott noch demütiger und intensiver zu lieben: nicht mit weniger, sondern mit einer realistischeren Liebe! Die junge Novizin nimmt kaum etwas von ihrem Ideal zurück, drückt es nicht herunter! Auch wenn ihre Briefe immer mehr die Erfahrung ihrer eigenen Schwäche bezeugen.

Welche Gnade, wenn wir uns am Morgen ohne Mut, ohne Kraft fühlen, um die Tugend zu üben; dann ist das der Augenblick, um die Axt an die Wurzel des Baumes zu legen. Statt seine Zeit damit zu verlieren, ein paar Strohhalme aufzulesen, schürft man Diamanten. Welcher Gewinn am Ende des Tages (Brief 65).

Ich möchte bei Ihnen gern ein wenig Kraft und Mut borgen, diesen Mut, der uns alles überwinden läßt (Brief 75)…

Sie nennt sich die Schwachheit selbst (Brief 79).

Und im Grunde ist es eine Chance, schwach zu sein:

Du möchtest, dass Dein Herz eine Flamme ist, die ohne den geringsten Rauch zu Ihm aufsteigt. Gib gut acht: Der Dich einhüllende Rauch ist nur für Dich da, um Dir die gesamte Sicht auf Deine Liebe zu Jesus zu rauben. Von Ihm allein wird die Flamme gesehen, dann hat Er sie wenigstens ganz. Denn wenn Er sie uns auch nur ein wenig zeigt, kommt sofort die Eigenliebe wie ein widriger Wind und löscht alles aus (Brief 81).

Welch unaussprechliche Freude, unser Kreuz schwach zu tragen (Brief 82).

In der Zwischenzeit ist ihr vieles klar geworden.

Glauben wir nicht, dass wir lieben können, ohne zu leiden, ohne viel zu leiden… Unsere arme Natur ist da! … Und sie ist nicht umsonst da! … Sie ist unser Reichtum, unser Broterwerb! … Leiden wir mit Bitternis, ohne Mut! … Jesus hat mit Traurigkeit gelitten! Würde die Seele ohne Traurigkeit überhaupt leiden? … Céline, welche Illusion!… Wollten wir niemals fallen? … Was macht es aus, mein Jesus, wenn ich jeden Augenblick falle. Ich sehe daran meine Schwachheit, und für mich ist es ein großer Gewinn … (Brief 89).

Kurz vor ihrer Profeß, nach zweieinhalb Ordensjahren, wird sie bekennen:

Du täuschst Dich, wenn Du glaubst, Deine kleine Thérèse schreite stets voll Eifer auf dem Weg der Tugend. Sie ist schwach, sogar sehr schwach, das erfährt sie täglich neu; aber Jesus gefällt es, sie wie den heiligen Paulus die Wissenschaft zu lehren, sich ihrer Schwachheiten zu rühmen. Das ist eine große Gnade, und ich bitte Jesus, sie Dich zu lehren, denn nur da sind Friede und Ruhe im Herzen zu finden (Brief 109).

Unter Hochspannung

Das hohe Ideal, das Thérèse vorerst mit ihren eigenen Mitteln zu erreichen sucht, stellt sie vor eine ungeheure Aufgabe! Thérèse kann und will nichts ihrer liebenden Aufmerksamkeit entgehen lassen! Ihre Sorgfalt in den kleinsten Dingen verstärkt sich noch. Keine Schwachstelle will sie in ihren Befestigungsmauern zulassen! Beim Heiligsprechungsprozeß werden die Schwestern die minutiöse Wachsamkeit Thérèses hervorheben, ihre Treue in den kleinsten Regelpunkten, ihren Gehorsam gegenüber jedem noch so geringen Wunsch, den Marie de Gonzague äußerte und den diese selbst bereits nach einigen Tagen vergaß. So eine Einstellung hätte sicherlich an Skrupulosität und Verbortheit grenzen können, wenn Thérèse nicht vom Feuer der Liebe motiviert gewesen wäre.

In ihren Briefen kehren oft Wendungen wieder, die ihr besonderes Bedachtsein auf die kleinen Dinge und den Wert, den diese haben, hervorheben: eine Träne, ein Seufzer, ein Blick, ein Strohhalm, ein Nadelstich

Ah! Nützen wir die kürzesten Augenblicke aus, machen wir es wie die Geizigen, seien wir eifersüchtig bedacht auf die kleinsten Dinge für den Viel-Geliebten (Brief 101).

Die übergroße Liebe Jesu muss mit gleicher Münze vergolten werden:

Jesu Liebe zu Céline kann nur von Jesus selbst verstanden werden! … Jesus hat für Céline Torheiten begangen. Möge auch Céline für Jesus Torheiten begehen … Liebe wird nur durch Liebe bezahlt, und die Wunden der Liebe werden nur durch die Liebe geheilt (Brief 85).

Das Wort unmöglich ist vorläufig aus ihrem Wortschatz gestrichen:

Die Liebe vermag alles; die unmöglichsten Dinge erscheinen ihr nicht schwierig. Jesus schaut nicht so sehr auf die Größe der Taten, noch darauf, wie schwierig sie sind als auf die Liebe, mit der sie vollbracht werden (Brief 65).

Nicht, was man tut, sondern wie und warum man es tut, bestimmt also den Wert unserer: armen und schwachen, kleinen Liebe… Es ist wahr, manchmal verschmähen wir es ein paar Minuten lang, uns einen Vorrat an Schätzen anzulegen …. Aber mit einem Akt der Liebe, selbst wenn er nicht gefühlt wird, ist alles wieder gutgemacht (Brief 65).

Sie hat auch den Eindruck, dass Liebe und Leiden gemeinsam wachsen:

Je mehr Seine Lilie in der Liebe wächst, desto mehr muss sie auch im Leid wachsen (Brief 83).

Das Ideal des Martyriums gehörte von jeher wesentlich zum Weltbild von Thérèse. Mit neun Jahren vernahm sie, als sie die Geschichte der Jeanne d'Arc las, den Ruf zu dem großen Abenteuer, heilig zu werden. Thérèse spürt, dass auch sie zum Ruhm geboren ist, daß aber ihr Ruhm sterblichen Augen nicht ansichtig werden sollte, dass er darin bestehen würde, eine große Heilige zu werden (A 66).

Jeanne d'Arc wird für Thérèse immer eine verwandte Seele bleiben, als Karmelitin wird sie sie zur Heldin in zwei ihrer Theaterstücke machen (Récréations Pieuses 1 und 3). Das Martyrium, so bekennt Thérèse, ist der Traum meiner Jugend. Dieser Traum ist in der Zelle des Karmel mit mir gewachsen (B 198).

Nun beginnt das Martyrium, schreibt sie in ihrem ersten Brief nach der Einlieferung ihres Vaters in die Anstalt, treten wir gemeinsam in die Schranken (Brief 82). Lieber sterben, als den ehrenvollen Kampfplatz zu verlassen, auf den die Liebe Jesu sie gestellt hat (Brief 83).

Der fanatische Antiklerikalismus in Frankreich schloß die Möglichkeit einer Kirchenverfolgung nicht aus, aber darauf wartet Thérèse nicht:

Sterben wir an Nadelstichen, bevor wir durch das Schwert sterben (Brief 86).

Das unbekannte Martyrium, das Gott allein bekannt ist …, ein Martyrium ohne Ehre, ohne Triumph … das ist die Liebe, bis zum Heroismus (Brief 94).

Thérèse dürstet danach, zu leiden und vergessen zu sein, wenn sie ihren Blick auf den leidenden Gottesknecht richtet (A 157). So wie ihr geistlicher Führer, der heilige Johannes vom Kreuz, wählt sie als ihren einzigen Anteil hier auf Erden das Leiden und die Verachtung (A 162). Wenn das Leben, laut Teresa von Avila, nichts anderes ist als eine Nacht, die man in einer schlechten Herberge verbringt, dann schließt ihre Tochter und Namensschwester von Lisieux daraus, daß es dann besser wäre, in einer ganz schlechten Herberge zu wohnen, als in einer nur halb schlechten … (Brief 49). Also leiden und immer wieder und immerfort leiden (Brief 81)!

Zu der Zeit damals trägt das Leiden noch einen Heiligenschein! Drei Monate nach Caen wird Thérèse so weit gehen, die Heiligkeit als den liebenden und entschlossenen Willen zu leiden zu definieren:

Die Heiligkeit besteht nicht darin, schöne Dinge zu sagen, sie besteht nicht einmal darin, sie zu denken oder zu fühlen!… Sie besteht darin, zu leiden und an allem zu leiden.

Und die junge Schwester zitiert dabei Pater Pichon:

Die Heiligkeit muss mit der Spitze des Schwertes erobert werden …, man muss leiden …, man muss mit dem Tod ringen … (Brief 89).

Stellt nicht alles, was es nun wegen der Krankheit ihres Vaters zu erdulden gilt, eine einzigartige Gelegenheit dar?

Welchen Vorzug gewährt uns Jesus, dass Er uns einen so großen Schmerz schickt… Überreich schenkt Er uns Seine Gnadenerweise, wie Er es bei den größten Heiligen tat… Jetzt haben wir nichts mehr auf Erden zu erwarten, nur noch Leiden und nochmals Leiden. Wenn wir am Ende sind, wird immer noch das Leid da sein und seine Arme nach uns ausstrecken, oh! welch beneidenswertes Los! (Brief 83).

Unbewußt hält Thérèse an der Vorstellung fest, daß die Heiligkeit schließlich und endlich von ihrem Leiden abhängt, also von ihr selbst. Man muss sie erwerben. Mit dem Schwert! Mit seinem Blut bezahlen… Jedes Stück Leiden ist eine Goldmünze, mit der man sich den reichen Schatz der Heiligkeit erkauft. Die Gelegenheiten hiezu sind Legion. Thérèse sieht sich in ihrer persönlichen Situation von ungeheuren Reichtümern umgeben (Brief 81). Diese Prüfung ist eine Goldader, die es auszubeuten gilt (Brief 82). Und Thérèse erinnert ihre Schwester Marie an die Ratschläge, die diese seinerzeit ihrer kleinen Schwester in den Buissonnets gab:

Ich höre Sie mir noch sagen: Schau die Kaufleute, wie sie sich anstrengen, um Geld zu verdienen, und wir können jeden Augenblick Schätze für den Himmel zusammensammeln, ohne uns so abzumühen. Wir müssen bloß die Diamanten mit einem Rechen zusammenkehren! Und frohen Herzens lief ich weg, voll guter Vorsätze! … Vielleicht wäre ich ohne Sie nicht im Karmel! (Brief 91).

Die Tochter zweier Kaufleute

Wenn wir jetzt in unseren Betrachtungen weitergehen, so können wir feststellen, dass die religiöse Erziehung der kleinen Thérèse von der Sorge gekennzeichnet war, etwas zu erringen, anzuhäufen, zu gewinnen und es auch zu vermerken. Sicherlich hatte dies positive Auswirkungen auf Thérèses Entwicklung. Ihre Großzügigkeit, ihre Energie und ihr geistiger Fortschritt wurden dadurch gefördert. Aber zugleich wurde die Haltung des Selbermachens bei ihrem geistlichen Bemühen gefördert, wo sie schon von Natur aus ziemlich ehrgeizig und unternehmungslustig war.

Unserer Ansicht nach darf man niemals vergessen, dass Thérèse eine Tochter von Geschäftsleuten ist. Ihr Vater war zwanzig Jahre lang erfolgreicher Uhrmacher und Juwelier. Zwei Jahre vor Thérèses Geburt gab er das Geschäft auf und widmete sich ganz dem Unternehmen seiner Frau, der Herstellung von Spitzen, was noch einträglicher war.

Geschäfte machen, arbeiten, Geld verdienen, Umsätze machen und das Geld anlegen, Buchführung, all das gehört spezifisch zum familiären Umfeld der kleinen Thérèse. Diese Luft atmet sie, ebenso wie ihre vier Schwestern, die die Kleine mitbeeinflussen. Die Martin sind eine unternehmungslustige Familie, auch auf dem Gebiet des geistlichen Lebens und der Heiligkeit! Thérèse nimmt bereits im Alter von vier Jahren teil an den Übungen: nämlich kleine, freiwillige Opfer zu bringen und sie zu zählen (A 20, 24). Schon sehr früh bekommt sie von Agnès Unterricht, und jedes Jahr gibt es vor den großen Ferien eine feierliche Preisverteilung. Aber… nur Preise, die Thérèse sich erarbeitet hat!

Hier wie überall blieb die Gerechtigkeit gewahrt, und ich erhielt nur die verdienten Belohnungen.

Die folgende Assoziation ist sehr bezeichnend:

Mein Herz klopfte gar heftig bei der Entgegennahme der Preise und der Krone… Es war für mich wie ein Bild des Jüngsten Gerichts (A 41).

Beim Jüngsten Gericht werden wir den verdienten Lohn erhalten!

Nachdem Agnès ins Kloster gegangen ist, übernimmt Marie die weitere Erziehung. Hören wir, wie die große Schwester Thérèse, die nun elf Jahre zählt, auf ihre Erstkommunion vorbereitet:

Ich setzte mich auf ihren Schoß und lauschte begierig auf das, was sie mir sagte … Wie die berühmten Krieger ihre Kinder das Waffenhandwerk lehren, so sprach sie zu mir von den Kämpfen des Lebens und von der Palme, die den Siegreichen winkt … Marie sprach auch von den unvergänglichen Gütern, die man tagtäglich mit Leichtigkeit sammeln kann; von dem Unglück, an ihnen vorbeizugehen, ohne sich die Mühe zu nehmen, die Hand auszustrecken und sie zu ergreifen.

Kampf, Reichtum… Und die Mittel dazu:

Dann wies sie mich auf das Mittel hin, durch die Treue in den kleinsten Dingen heilig zu werden; sie gab mir das Blättchen Von der Entsagung, und ich meditierte darüber mit Wonne (A 69).

Reich zu werden nach der Art eines geistlichen Kaufmanns, mit der Präzision und Aufmerksamkeit eines Uhrmachers, dazu ein außerordentlich feines Spitzenmuster: das ist es, was Thérèse im Blut liegt!

Agnès nimmt noch von ihrem Karmel aus regen Anteil! Sie hat ein schönes buntes Heft für zehn Wochen zusammengestellt, das für jeden Tag ein kurzes Gebet vorsieht, und jeder Tag trägt den Namen einer Blume. Thérèse soll als Vorbereitung auf ihre Erstkommunion dieses kurze Gebet oft sprechen und viele kleine Opfer bringen, die durch die Blume symbolisiert werden; sie soll diese Opfer in ihr Heft eintragen und sie am Tag ihrer Erstkommunion Jesus schenken. Thérèse fühlt sich wie im Himmel!

Du kannst Dir das Glück nicht vorstellen, das ich empfand, als Marie mir Dein schönes Büchlein zeigte. Ich fand es entzückend. Nie habe ich etwas so Schönes gesehen, und ich konnte mich gar nicht satt daran sehen. Jeden Tag versuche ich, so viele Übungen zu machen, wie ich nur kann, und ich tue alles, um mir keine Gelegenheit entgehen zu lassen. In meinem Herzen bete ich die kleinen Anrufungen, die der Duft der Rosen sind, so oft ich kann (Brief 11).

Und dies ist das Resultat! In 68 Tagen: 1949 kleine Opfer (das heißt 27 pro Tag) und 2773 kurze Gebete (40 pro Tag)!

Der Unterricht in der Schule der Abtei unterstreicht gleichermaßen die Wichtigkeit der guten Werke und die Beharrlichkeit. Thérèse vermerkt in dem Heftchen mit den Predigten während der Vorbereitungsexerzitien auf ihre Erstkommunion:

Ich habe mir vorgenommen, mich anzustrengen, um gut zu werden und viele gute Werke zu haben, die ich dem lieben Gott vorweisen kann.

Wenden wir uns wieder dem Karmel zu, wo Thérèse nun in die Schule des Leidens geht … Gegenwärtig muss sie mehr denn je das, was Marie sie lehrte, in die Tat umsetzen! Knapp vor ihrem Eintritt hatte sie es sich wieder ins Gedächtnis gerufen:

Ich wünsche nur eines, wenn ich im Karmel sein werde: immer für Jesus zu leiden. Das Leben geht so rasch vorüber, dass es wirklich besser ist, eine sehr schöne Krone und ein wenig Leid zu haben, als eine gewöhnliche ohne Leid (Brief 43 B).

Ihre Wachsamkeit ist sehr groß:

Ein Tag im Leben einer Karmelitin ohne Leid ist ein verlorener Tag (Brief 47).

Das Sandkorn will trotz seiner Kleinheit sich eine schöne Ewigkeit vorbereiten. Auch für die Seelen der Sünder will es das tun (Brief 54).

Viel kämpfen, viel leiden, geistliche Reichtümer sammeln: wir haben bereits auf diese sprachlichen Ausdrücke Thérèses in ihren ersten Ordensjahren hingewiesen - es ist eine oft kämpferische Sprache, manchmal verherrlicht sie das Leid, oft hat sie eine ökonomische Färbung.

Kein Leid ist zu viel, um die Siegespalme zu erringen (Brief 55).

Und sie fügt den Gedanken des Zeitdrucks hinzu:

Die Zeit vergeht schnell, ich sehe, wie sie mir mit erschreckender Geschwindigkeit entgleitet (Brief 62).

Und die Schlußfolgerung?

Beeilen wir uns also, unsere Krone zu gestalten (Brief 94).

Ihr Ideal ist so hoch gesteckt und so schwierig, dass sie in ihrer Liebe sozusagen ständig laufen müßte, ohne dabei kaum je den Boden zu berühren. Aber das ist unmöglich, es ist unmenschlich. Daraus resultieren ihre Klagen wegen ihres Unvermögens, ihrer Lauheit, ihrer täglichen Schwäche, wie wir sie schon gehört haben. Thérèse muss sich innerlich entwickeln und geläutert werden, ehe sie glücklich darüber sein kann, vor Gott mit leeren Händen zu erscheinen und zu begreifen, dass sie Gott aufgrund Seiner Barmherzigkeit und nicht wegen ihrer eigenen Treue empfangen wird!

Gewissensfragen

Es gibt da auch noch etwas anderes. Ein gelegentlich unvermeidlicher Mangel in der Übung der vollkommenen Liebe konnte bei der eifrigen Novizin insgeheim Gewissensnöte hervorrufen, was allerdings mit dazu beigetragen hat, dass sie sich das Unterfangen der Selbstheiligung aus den Händen hat nehmen lassen.

Thérèse hat ein sehr zartes Gewissen. Der geringste Fehler wird von ihr stark beachtet und löst schnell Unruhe und Zweifel an ihr selbst aus. Da Thérèse in ihrer psychischen Verfaßtheit sehr empfindsam ist, wird sie es durch ihr seelisches Wachstum noch umso mehr. Als Kind ist sie die ganze Nacht hindurch wach geblieben, wenn sie das Gefühl hatte, dass der liebe Gott mit dem vergangenen Tag nicht ganz zufrieden gewesen sein könnte. Später artet diese besondere Feinfühligkeit unter dem Einfluß einer latenten affektiven Frustration (seit dem Tod ihrer Mutter) und möglicherweise auch durch das völlige Fehlen einer Erziehung zu einer gesunden Sexualität in ihren Pubertätsjahren zu Angstgefühlen und Skrupeln aus (vgl. A 81, 87 und 88).

Nachdem sie dann diese Krise überwunden hat, bleibt dennoch eine verborgene Unruhe zurück. Thérèse hat der Moral ihrer Zeit, die so leicht etwas zu einer schweren Sünde erklärte, ein hartes Lehrgeld zahlen müssen. Für sie bedeutet es eine enorme Erleichterung, als ihr Pater Pichon kurz nach ihrem Eintritt in den Karmel versicherte, dass sie niemals eine Todsünde begangen hat. Aber er fügt hinzu: Wenn Gott Sie im Stich lassen würde, so wären Sie statt eines kleinen Engels ein kleiner Teufel. Ach, es fiel mir nicht schwer, das zu glauben, fährt Thérèse fort, ich spürte, wie schwach und unvollkommen ich bin.

Der Grund für ihre Qualen ist seltsam: Ich fürchtete so sehr, mein Taufkleid befleckt zu haben (A 154).

Offensichtlich ging es ihr nicht so sehr und einzig und allein um die Furcht, gerade im Stand der Sünde zu sein, sondern um eine Art Ehrenpunkt betreffend ihre ganze Treue in der Vergangenheit, das heißt, darum, daß sich auf ihrer Weste kein schwarzer Fleck befände … Das setzt die Sorge voraus, vor Gott vollkommen zu erscheinen, makellos, so dass man sich vor sich selbst nicht schämen muss … Diese Haltung ist zwar sehr schön, kann aber viel versteckte Eigenliebe in sich bergen… Jedenfalls sind wir noch weit von der Einstellung entfernt, die Thérèse auf dem Höhepunkt ihrer geistigen Reife besitzen wird, wenn dann jedes Schauen auf sich selbst unter dem Blick der unendlichen und heiligmachenden Barmherzigkeit Gottes dahinschwindet:

Wenn ich auch alle nur möglichen Verbrechen begangen hätte, wäre mein Vertrauen doch genauso groß. Ich fühle es, diese ganze Masse von Sünden wäre wie ein Wassertropfen, den man auf glühende Kohlen fallen läßt (IGL 95).

Thérèse hatte mit dieser Sündenproblematik viel zu kämpfen. Schwester Agnès bezeugt, dass am Beginn ihres Ordensleben diese Furcht, Gott zu beleidigen, Thérèse das Leben vergällte (Seligsprechungsprozeß). Denn Thérèse beging natürlich Fehler, wenn auch sehr kleine. Und dazu war ihre Zeit stark vom Jansenismus geprägt: die Fehler wurden sehr streng beurteilt, und man machte sich ihretwegen heftige Vorwürfe. Als Thérèse sich einmal in der Beichte bei M. Youf anklagt, dass sie oft während der Messe ihres Schlafs nur schwer Herr werden kann, weist dieser Priester sie scharf zurecht, indem er ihr klarmacht, dass sie damit Gott beleidigt! Den anderen Schwestern ergeht es mit ihm nicht besser… Eines Tages ermutigt er eine Schwester folgendermaßen: Mein armes Kind, alles, was ich Ihnen sagen kann, ist, dass Sie mit einem Fuß bereits in der Hölle stehen und dass Sie, wenn Sie so weitermachen, auch mit dem zweiten Fuß bald dort sein werden.

Aber die Priorin, Marie de Gonzague, tröstet sie: Beruhigen Sie sich, ich bin schon mit beiden dort! (Brief 112).

Thérèses Sorge um ihre völlige Reinheit wird nach und nach in dem Maße geringer, als sie immer mehr von dem Bewußtsein um die nachsichtige Beurteilung durch Gott geprägt wird. Das geht ganz klar aus einem Brief hervor, den sie einige Tage vor ihrer Profeß schreibt:

Sagen Sie Jesus, Er möge mich am Tag meiner Profeß zu sich nehmen, wenn ich Ihn später noch beleidigen sollte… Doch mir scheint, Jesus kann mir wohl die Gnade schenken, Ihn nicht mehr zu beleidigen oder besser… nur noch solche Fehler zu machen, die Ihn nicht beleidigen, sondern die einen nur demütigen und die Liebe stärken (Brief 114).

Ein gutes Jahr nach ihrer Profeß am 8. September 1890 trifft sie während der Jahresexerzitien Pater Prou. Dieser Prediger sagt ihr, daß ihre Fehler dem lieben Gott nicht wehtun. Thérèse erklärt, dass sie an diese Möglichkeit noch gar nicht gedacht hat. Der Priester wirft sie mit vollen Segeln in die Fluten des Vertrauens und der Liebe (A 177).

So befreiend diese Botschaft auch sein mag, so scheint Thérèse sich doch noch immer nicht sorglos auf diesen Ozean der verstehenden Liebe Gottes hinauszuwagen. Fünfzehn Monate später muss Pater Pichon sie erneut heftig zur Ordnung rufen:

Nein, nein, Sie haben keine Todsünden begangen. Ich schwöre es. Nein, man kann keine Todsünde begehen, ohne es zu wissen. Nein, nach der Lossprechung darf man nicht mehr daran zweifeln, im Zustand der Gnade zu sein. Lassen Sie also all die Unruhe. Gott will es, und ich befehle es Ihnen. Glauben Sie mir aufs Wort: Niemals, niemals, niemals haben Sie auch nur eine einzige Todsünde begangen (Brief vom 20. Jänner 1893).

Thérèse fügt sich

Fest steht, dass Thérèse zu Beginn meinte, selbst den Berg der Heiligkeit erklimmen zu können, wenn sie sich nur gehörig anstrengte. Sie verstand noch nicht, dass allein die Arme Jesu sie zum Gipfel hinauftragen konnten. Es stimmt, dass das Bild von den Armen in Thérèses Briefen auftaucht, aber sie erwägt ausdrücklich die Möglichkeit, dass Jesus sie auch wieder auf die Erde stellt. Das ist allerdings kein Problem für sie, ihre Armut wird zu einem Trumpf für ihre Demut und somit für ihre Heiligkeit (Brief 89). Später wird sie ihre Sichtweise ändern: Jesus wird sie sicher halten und tragen; Er muss es tun, sonst wird sie es niemals schaffen; wenn sie ihren eigenen Kräften überlassen wird, so bleibt sie nichts als ein armes Sandkorn und die Heiligkeit ein Berg, dessen Gipfel sich im Himmel verliert (C 214).

Während der ersten Jahre ihres Ordenslebens wächst in ihr nach und nach folgende Überzeugung: Aus eigener Kraft kann ich nicht heilig werden, das übersteigt meine Kräfte! Der Wunsch an ihrem Profeßtag: die unendliche Liebe, die keine andere Grenze kennt als Dich, ist zu einer nicht nur einfach überhöhten, sondern auch zu einer übermenschlichen Aufgabe geworden.

Thérèse stellt fest, dass sie noch immer recht oft Fehler in den kleinen Dingen begeht. Sie fühlt sich unvermerkt an den Fuß einer Mauer gestellt und mit ihrer eigenen Ohnmacht unerbittlich konfrontiert. Und der geliebte Gott wird immer lieber zu ihr. So wird das Ideal von der gegenseitigen Liebe immer größer. Wie kann man je das tun, was Gott für uns getan hat? Wie kann man mit Ihm wetteifern? Wie Ihm Gleiches mit Gleichem vergelten? Gott wächst in ihren Augen schneller, als die Kraft ihres Herzens zunehmen kann! Wenn Thérèse liebt, betet, die Schrift und den heiligen Johannes vom Kreuz meditiert, so fühlt sie mit immer wachsenderer Intensität den unendlichen Wert des Allheiligen, des Absoluten Seins, das die aus freien Stücken geschenkte Liebe ist… Und diese Schau bewirkt in ihr in einem hohen Maße das Gefühl ihrer eigenen Unzulänglichkeit. Der schöne Traum ihrer Liebe - eigentlich: ihrer eigenen Liebe - wird zerstört, und auf den Trümmern verwirklicht Gott den Traum, den Er für Thérèse hat.

Bis jetzt bedeutete für Thérèse ihr Ungenügen ein Hindernis, etwas, das es zu überwinden galt. Nun aber lernt sie es langsam, den Weg der Hingabe zu gehen. Unter dem Gewicht des ungeheuren Programms rückt der Wunsch, zur vollkommenen Liebe zu gelangen, immer mehr in den Hintergrund, um Gott immer mehr die Initiative zu überlassen. Die Beziehung ich-Du erfährt allmählich eine Umkehrung und wird zu einem Du-ich. Nach und nach wird die verkrampfte Haltung des Ich will es tun, und ich werde es für Dich tun zu dem viel ruhigeren und vertrauensvolleren: Für mich ist es unmöglich, Du musst es also für mich tun.

Dieser Prozeß des Armwerdens geht für Thérèse nicht ohne Leiden und Schmerzen vor sich. Aber so lernt sie es loszulassen. Die Heiligkeit ist nicht mehr Produkt ihrer eigenen Vervollkommnung, sondern ein Geschenk Gottes. Sie lernt, sich vollständig der Gnade Gottes anzuvertrauen, die allein heiligmacht. Dies wird ihre große Bekehrung von Ende 1894 sein! Aber wir greifen dem Geschehen vor; wir müssen noch eingehender betrachten, was in den Jahren 1893 und 1894 geschehen ist.

Entspannung durch die Hingabe 

Im Februar 1893 - Thérèse ist zwanzig Jahre alt und fast fünf Jahre im Kloster - verändert sich die Lage der Kommunität erheblich: Schwester Agnès folgt Marie de Gonzague als Priorin nach! An die Stelle einer autoritären, manchmal stiefmütterlichen Herrschaft tritt die Leitung durch die zweite Mama (A 28) Thérèses! Sie schreibt:

Ich bin von Natur aus so beschaffen, dass die Furcht mich zurückweichen läßt, mit der Liebe aber schreite ich nicht nur voran, ich fliege… O meine Mutter! Vor allem seit dem gesegneten Tag Ihrer Wahl flog ich dahin auf den Wegen der Liebe … An diesem Tag wurden Sie für mich zur Verkörperung Jesu … (A 178).

Noch dazu ist M. Martin am 10. Mai 1892 gelähmt und geistig verwirrt in die Familie zurückgekehrt. Da die Zeit die Wunde ein wenig hat vernarben lassen, sind das Leid und die Schande von Caen jedoch im Moment nicht so schlimm.

Das psychologische Umfeld, in welchem Thérèse nun lebt, ist also viel ruhiger geworden. Das äußere Leid wurde kleiner und das Bewußtsein um die eigene Ohnmacht größer, und ihr Traum vom Kleinsein - klein wie ein Sandkorn - ändert also seinen Charakter. Gegenwärtig geht es Thérèse weniger darum, in den Augen der anderen, als bewußt in den eigenen Augen klein zu werden. Nach nichts mehr trachten, was dich vor dir selbst größer macht! Auf keinem Gebiet mehr Besitzansprüche stellen, nicht einmal auf dem der eigenen Liebe!

Nach ihren persönlichen Exerzitien im Jahr 1892 schreibt Thérèse an Céline einige sehr bedeutungsvolle Zeilen, in denen sie die neuen Gedanken ausdrückt, die gerade in ihr reifen:

Jesus sagt zu uns - wie zu Zachäus -, dass wir herabsteigen sollen… Wohin sollen wir denn herabsteigen?… Wir sollen so arm sein, daß wir nichts haben, wohin wir unser Haupt legen könnten. Das, geliebte Céline, hat Jesus während meiner Exerzitien in meiner Seele gewirkt… Du verstehst, es handelt sich um ein inneres Geschehen. Ist das Äußere nicht bereits zu nichts geworden, durch die so schmerzliche Prüfung von Caen?… In unserem geliebten Vater hat Jesus den empfindlichsten äußeren Teil unseres Herzens getroffen. Lassen wir Ihn jetzt handeln. Er weiß, wie Er Sein Werk in unseren Seelen vollenden wird… Jesus wünscht, dass wir Ihn in unseren Herzen empfangen. Zweifellos sind sie bereits leer von den Geschöpfen, aber leider fühle ich, dass meines noch nicht ganz leer von mir selbst ist, und deshalb sagt Jesus zu mir, ich soll herabsteigen (Brief 137).

Der Wunsch nach Entäußerung und das Bestreben zu verschwinden sind nun auf das intimste und persönlichste Niveau zentriert, es ist dies der normale Prozeß der Verinnerlichung, wie er sich bei dem ereignet, der Gott großherzig sucht. Oft erst nach Jahren kommen solche Menschen darauf, wie subtil ihr Stolz und ihre Eigenliebe sich zu verbergen wissen. In den vergangenen Jahren 1888-1892 hatte sich Thérèse besonders um die Demut bemüht, wobei sie suchte, von den anderen nicht beachtet zu werden, um nur von Jesus gesehen zu werden und Ihm damit mehr Liebe und eine reinere Liebe schenken zu können. Die Jahre 1893-1894 hingegen können durch die Entdeckung der spirituellen Armut charakterisiert werden: Thérèse überläßt sich mehr und mehr dem vorrangigen Handeln Gottes in ihr und erwartet, dass Gott die Ohnmacht ihrer Liebe durch die Kraft und die große Freigebigkeit in Seiner Liebe ausgleicht.

Am 6. Juli 1893 taucht in ihren Schriften zum ersten Mal ein neues Wort auf: Sich hingeben, sich fallen lassen (abandon) (Brief 142).

Es ist sonnenklar, dass Thérèse dieses Wort seit langem kannte, und bei den Schwierigkeiten wegen ihres Eintritts hatten ihre Schwestern sie ausdrücklich zur Hingabe ermuntert (A 149). Aber Thérèse hatte bisher dieses Wort nicht wirklich in ihren Wortschatz aufgenommen, es wurde nicht zu ihrem geistigen Besitz, noch nicht zu einem Punkt in ihrem geistigen Programm.

Wenn wir z. B. ihre Hingabe von früher mit der von 1897, ihrem Todesjahr, vergleichen, dann sehen wir den Unterschied! Im Jahr 1887 ist die Hingabe eine Folge der Prüfung; zehn Jahre später eine Folge ihres positiven Gottesbildes, als des Gottes, der sie voller Erbarmen an sich zieht. 1887 ist die Hingabe von Kummer begleitet; später ist sie Quelle tiefer Freude. 1887 bewegt sich die Hingabe in den Grenzen der konkreten Schwierigkeiten, die es zu überwinden gilt; später wird sie zu einem Lebenselement, das alles in sich einschließt. So ist diese neue Form der Hingabe, wie sie im Jahr 1893 aufscheint und in ihren Schriften erstmals mit diesem Namen benannt wird, ihrem endgültigen Zustand viel näher als dem Beginn ihrer Entwicklung.

Lassen wir Thérèse in bezug auf diese neue Sicht der Dinge das Wort. Am 6. Juli 1893 (Brief 142) schreibt sie an Céline, ihre Vertraute:

Das Verdienst besteht nicht darin, viel zu tun oder viel zu geben, sondern darin, zu empfangen und viel zu lieben… Lassen wir Ihn alles nehmen und geben, was Er will. Die Vollkommenheit besteht darin, Seinen Willen zu tun (Brief 142).

Wie weit sind wir da von ihrer Anschauung von 1889 entfernt! Damals mußte man sich die Heiligkeit mit dem Schwert erringen, der einzige Weg zum Heil lag darin, in allem zu leiden! Thérèses Ideal besteht noch immer darin, viel zu lieben, aber ihre eigene Tätigkeit stellt sie unter das Zeichen der Hingabe an den Willen Gottes, wie immer dieser aussieht, selbst wenn dieser Wille im Gegensatz zu ihrem früheren Programm des viel Leidens steht! Und ihre Liebe scheint weniger besorgt zu sein, wo sie steht!

Wie leicht ist es, Jesus zu gefallen, Sein Herz zu entzücken. Man braucht Ihn nur zu lieben, ohne auf sich selbst zu schauen, ohne allzu sehr seine eigenen Fehler zu untersuchen (Brief 142).

Der Brief schlägt auch weiterhin in dieselbe Kerbe, indem er immer tiefer geht. Thérèse ist bezüglich ihrer Verfehlungen nicht laxer geworden, aber Jesus lehrt sie,aus allem Nutzen zu ziehen, aus dem Guten und aus dem Bösen, das sie in sich findet.

Ihre Heilsökonomie trägt ein ganz anderes Gesicht:

Jesus lehrt sie, auf der Spielbank der Liebe zu spielen, oder vielmehr nein: Er spielt für sie, ohne ihr zu sagen, wie Er das macht, denn das ist Sein und nicht Thérèses Sache. Ihr kommt es zu, sich zu überlassen, sich vorbehaltlos auszuliefern, selbst ohne die Freude zu wissen, was ihr die Spielbank einbringt! (Brief 142).

Nirgends predigt Thérèse, dass man in der Gottesliebe nachlässig sein soll. Sie preist keine leichte Lösung an, verkündet nicht eine billige Gnade (Bonhoeffer). Aber sie beginnt ausdrücklich immer mehr von Gott selbst zu erhoffen. Deshalb relativiert sie ihre Schwäche mehr. Sie steht ihrer Ohnmacht viel gelassener gegenüber: man tut, was man kann, aber man erkennt, dass Gott groß ist und gut genug, um unserem Mangel abzuhelfen und Seine Kraft über unsere Gebrechlichkeit triumphieren zu lassen.

Diese Haltung baut sie weiter aus. In dem Brief, den wir vor uns haben, sehen wir, wie die Zeilen, die zunächst unklar und verschwommen wirken, zunehmend an Klarheit gewinnen und zu einem gut verfolgbaren Faden werden:

Mein Seelenführer ist Jesus. Er lehrt mich nicht, meine Tugendakte zu zählen (wie in der Zeit ihrer Erstkommunionvorbereitung!),Er lehrt mich, alles aus Liebe zu tun, Ihm nichts zu verweigern, zufrieden zu sein, wenn Er mir eine Gelegenheit gibt, Ihm meine Liebe zu beweisen. Die aber geschieht im Frieden und in der Hingabe (das ist ihre neue und große Erkenntnis).Jesus tut alles, und ich tue nichts (Brief 142).

Die Tochter zweier Geschäftsleute hat ihre Kontobücher beiseite gelegt!

Jesus ist es, der alles tut, und ich tue nichts. Das ist, mit Thérèses eigenen Worten, ihre neue Sichtweise des Strebens nach Heiligkeit! Ihr eigener Wille nach Heiligkeit kapituliert auf allen Fronten. Sie bringt in die Feststellung ihres Unvermögens ihren großherzigen Humor ein und relativiert ihre persönlichen Anstrengungen:

Vielleicht glaubst Du, ich tue immer, was ich sage, schreibt sie wenig später an Céline (Brief 143). Oh nein! Ich bin nicht immer treu, doch ich verliere nie den Mut. Ich überlasse mich ganz den Armen Jesu. Der kleine Tautropfen dringt immer tiefer in den Kelch der Blume der Felder (Jesus) ein, und dort findet er alles wieder, was er verloren hat, und noch viel mehr.

Jeglicher Hang zum Streben nach Vollkommenheit, jedes Bemühen, Schätze anzuhäufen, ist verschwunden:

Ich tue das nicht, um mir einen Kranz, um mir Verdienste zu erwerben, sondern um Jesus zu erfreuen. 

Nur noch ein Schritt bis zur geistigen Kindschaft

Eine Frage drängt sich uns nun auf. Ist dies alles nicht schon der berühmte kleine Weg, von dem Thérèse so oft sprechen wird? Kann man denn auf dem Weg der geistigen Kindschaft, in der Haltung des Kindes-eines-Vaters, die Thérèse mit solcher Konsequenz bis hin zu ihrem eigenen Heiligwerden verfolgt, noch weitergehen?

Wir haben tatsächlich bereits bemerkt, dass sie, von ihrer frühesten Jugend an, an der Treue in den kleinen Dingen mit Bestimmtheit festhält. Was die Verdienste und die Fortschritte betrifft, so erwartet Thérèse diese seit 1893 nicht mehr von sich selbst, sondern von Gott. Das Wissen um ihre eigene Unzulänglichkeit ist bereits sehr weit gediehen. Fortan versucht Thérèse weniger ihre Schwäche aus eigener Kraft in Liebe zu wandeln, sie will lieber den Herrn handeln lassen. Sie macht sich die Vorrangigkeit der Liebe Gottes zu uns bewußt, die ja nicht nur der Ursprung unserer Akte der Liebe ist, sondern sie auch vollkommen macht. Ist dies nicht alles schon der Weg der geistigen Kindschaft?

Gewiß, dies alles bedeutet bereits, als Kind-eines-Vaters zu leben. Und all diese Elemente und diese Haltungen werden wir in der Sicht, die Thérèse am Ende ihres Lebens hat, wiederfinden. Ihr ganzes Leben lang sammelt sie Material, das ihr beim Bau ihrer Synthese behilflich sein wird.

Dennoch muss man sagen, dass dies alles noch nicht der kleine Weg Thérèses in seiner ganzen Fülle ist. Wir müssen Thérèse ernst nehmen, wenn sie behauptet, dass sie in einem bestimmten Augenblick einen neuen Weg entdeckt hat. Auch wenn alle Steine bereits auf der Baustelle liegen - was hier nicht immer der Fall ist -, so macht der Haufen allein doch kein Haus aus. Thérèse muß noch ein letztes Mal ihre Sicht von Heiligkeit neuordnen, eine endgültige Werthierachie erstellen. Im Jahr 1893 ist sie nur noch einen Schritt von ihrer endgültigen Synthese entfernt, von ihrem kleinen Weg. Sie ist dabei, den Knoten zu lösen.

Sagen wir es mit ihren eigenen Worten vom Juli 1893: Thérèse wird sich damals des göttlichen Spieles auf ihrem Weg zur Heiligkeit bewußt, ohne allerdings zu verstehen, wie Er es anstellt, dass Ihm Seine Liebe zurückgezahlt wird. Als sie ihren kleinen Weg entdeckt, enthüllt ihr der Herr ganz genau das Wie Seiner Heiligung. So wird Thérèse sich in vollkommener Weise auf das Spiel Gottes einlassen können. Sie wird den Weg vor sich völlig klar sehen. Und um wieviel schneller wird sie auf dem hell erleuchteten Weg voranschreiten können! Vorher ging Thérèse auf ihm wie eine Blinde, voller Zögern, Verzug, Irrtümer. Nun wird sie fliegen!

Laut Thérèses eigener Erklärung bezieht sich ihre große Entdeckung auf Gott. Es ist die Entdeckung Seiner Barmherzigkeit als dem Inbegriff der Barmherzigkeit schlechthin. Natürlich wußte sie auch vorher schon um Seine Güte, und wie sehr sie ihr zu Hilfe kommt. Nun erkennt sie, dass die Liebe Gottes nicht nur reell, zuvorkommend und treu ist, sondern dass diese Liebe auch herabsteigt; dass sie sucht, was klein ist, WEIL es klein ist; damit sie es mit ihren Gütern beschenken kann. Thérèse entdeckt die Barmherzigkeit Gottes als die Quelle, aus der ihr ganzes Leben hervorströmt.

Nun sieht sie in der Barmherzigkeit Gottes klar das Geheimnis ihrer Erlösung und ihrer Heiligung. Die Annahme ihrer eigenen Grenzen ist in dieser endgültigen Synthese mit beinhaltet; in einem gewissen Sinn beginnt dort die Öffnung auf Gott hin. Aber das Kleinsein wird künftighin statt hauptsächlich in der Demut, vor allem im Vertrauen bestehen. Im demütigen Vertrauen wird die Ohnmacht vor Gott hin getragen und wird für den, der sie eingesteht und sich der Barmherzigkeit Gottes anvertraut, zu einer Verheißung dafür, dass Er helfend eingreift.

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zuletzt aktualisiert am 12.09.2016
korrekt zitieren:
Mit leeren Händen - Die Botschaft der Thérèse von Lisieux:
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