Mit leeren Händen
Die Botschaft der Thérèse von Lisieux
Leere Hände
für die barmherzige Liebe
Von der Ferne betrachtet erlebt Thérèse die letzte Periode des körperlichen Zerfalls ihres Vaters im Frühling 1894 im Schweigen und im Frieden. Umgeben von der liebevollen Sorge von Céline und Léonie stirbt M. Martin am 29. Juli. Er hat seine Letzte Ruhe gefunden, und Thérèse fühlt ihn sich sehr nahe.
Papas Tod macht auf mich nicht den Eindruck eines Todes, sondern eines wirklichen Lebens. Nach sechsjähriger Abwesenheit finde ich ihn wieder. Ich fühle, wie er um mich herum ist, mich anschaut, mich beschützt (Brief 170).
Am 14. September verläßt Céline alles und tritt ihrerseits aus Liebe zu Jesus in die Gemeinschaft des Karmel von Lisieux ein. Vier leibliche Schwestern in einer kleinen Kommunität… Das ist ein einzigartiger Fall in der Geschichte des Karmel! Thérèse hat nichts dagegen, und ihre Freude ist riesig!
Meine liebe Céline, fürchte nichts. Jesus wird Dich nicht enttäuschen … Ich habe Deinetwillen so viel gelitten, dass ich hoffe, kein Hindernis für Deine Berufung zu sein. Ist unsere Liebe nicht wie das Gold im Feuerofen geläutert worden? (Brief 168).
In Célines Gepäck befindet sich der Fotoapparat, dem wir
die vielen Bilder von Thérèse verdanken: die Priorin Agnès
erwies sich als der modernen Technik gegenüber sehr aufgeschlossen!
Céline bringt auch ein kleines Heft mit, das im Leben Thérèses
eine große Rolle spielen wird. Es enthält eine Auswahl der schönsten
Texte des Alten Testamentes. Den jungen Karmelitinnen von Lisieux war es
nämlich nicht gestattet, das ganze fremdartige
Alte Testament zu
lesen, und Thérèse hatte daher nur über die liturgischen
Texte und geistlichen Bücher zu ihm Zugang. So ist dies ein schöner
Reiseproviant, den Céline da mitbringt, und Thérèse,
eine begeisterte Leserin der Heiligen Schrift, stürzt sich mit Heißhunger
darauf!
Plötzlich ist da ein ganz neuer kleiner Weg
!
Kurze Zeit danach, aber sicher vor Ende 1894, macht Thérèse
ihre geniale Entdeckung, als sie das Heftchen studiert: sie findet darin
ihren berühmten kleinen Weg
! Ohne nun wirklich eine objektive exegetische
Analyse der betreffenden Texte zu machen, erhält sie von Gott während
des Lesens eine Antwort auf ihre Suche: Thérèse verdankt
ihre Entdeckung in erster Linie einer persönlichen Erleuchtung durch
den Heiligen Geist, der sie diese Texte mit dem Herzen verstehen läßt
(Mt 13,15). Der Text ist für sie die Linse, die den ganzen Schatz
des Glaubens projiziert! In diesem Moment der Gnade entdeckt Thérèse
durch die oberflächliche Hülle der Texte hindurch klar die Kraftlinien
der Offenbarung. Sie erfährt, wie die Ströme göttlichen
Lebens den Strom ihrer eigenen Existenz nähren. In einer echten geistlichen
Lesung geschieht es, dass Gott ihr persönliche Botschaften für
das Leben mitteilt.
Nur wenige Monate vor ihrem Tod erzählt sie in ihren Schriften
von ihrem Eureka, ihrem ich habe es gefunden!
. Die Fassung trägt
dort die Spuren einer im Vergleich mit dem ursprünglichen Ausgangspunkt
bereits ausgefeilten Ausdrucksweise: aber seither sind auch tatsächlich
zweieinhalb Jahre vergangen! Ihr Bericht (C 214-216) ist zu lang, um ihn
hier im vollen Wortlaut wiedergeben zu können. Wir wollen aber die
fünf Hauptpunkte anführen, die man darin leicht unterscheiden
kann.
1. Zunächst spricht Thérèse von ihrem früheren
Wunsch, den wir bereits gut kennen: Ich wollte immer eine Heilige sein.
Der neue kleine Weg
(dies ist der Ausdruck, den Thérèse
selbst gebraucht), den sie soeben entdeckt hat, enthüllt von Beginn
an seinen funktionalen Charakter. Er ist kein Ziel an sich; er ist ein
Zwischenstadium, ein Mittel, das anderswohin führt. Das Ziel ist die
Heiligkeit, die gänzliche Entfaltung der Liebe.
2. Wer aber kann diese Liebe entfalten? Von sich aus kann Thérèse es nicht. Parallel zu ihrem einstigen Wunsch steht nun die alte Feststellung ihres Unvermögens.
Ich habe mir immer gewünscht, eine Heilige zu sein; aber ach! wenn ich mich mit den Heiligen verglich, stellte ich stets fest, dass zwischen ihnen und mir derselbe Unterschied besteht wie zwischen einem Berg, dessen Gipfel sich in den Wolken verliert, und dem unscheinbaren Sandkorn.
Ihr ganzes Leben hindurch haben wir gesehen, wie in ihr Wunsch und Unvermögen kämpfen, so wie beim verzweifelten Kampf Jakobs mit Jahwe (Gen 32)! Einer solchen Erklärung von Thérèse könnte man entgegenhalten, dass sich sowohl die übergroße Heiligkeit der anderen relativieren als auch Thérèses demütige Selbsteinschätzung ein wenig anheben ließe. Aber hier würde das zu nichts führen! Wesentlich ist das subjektive, persönliche Empfinden von Thérèse. Von diesem ausgehend entwirft sie ihren Weg. (Oder genauer: den Demütigen schenkt Gott Sein Licht.) Und weil es hier um eine Lebensfrage geht, in der viele Gläubige ihre eigene Erfahrung zum Teil wiedererkennen, konnte die Antwort der Heiligen von Lisieux ein solches weltweites Echo in der Kirche finden.
3. Wir sehen weiters die Strahlkraft eines Menschen, der seit langem unter dem Licht der göttlichen Offenbarung gelebt hat und der die Art, wie Gott uns führt, immer besser versteht: eine innere Gewißheit verbietet ihr, sich der Unruhe oder der Entmutigung hinzugeben.
Statt zu verzagen, sagte ich mir: der liebe Gott flößt keine unerfüllbaren Wünsche ein, ich darf also trotz meiner Kleinheit nach der Heiligkeit streben.
Es ist wenig wahrscheinlich, dass Thérèse im eigentlichen Augenblick ihrer Entdeckung bereits so klar formulierte Gedanken gehabt hat. Zweifelsohne handelte es sich um eine plötzliche und befreiende Eingebung, die wie ein Same in das längst dafür bereitete fruchtbare Erdreich fiel. In ihr lebte die Überzeugung, die zu einem fixen Bestandteil von ihr selbst geworden war: Durch eigene Kraft werde ich es niemals schaffen, und dennoch verbietet mir mein Herz davon abzustehen! In ihren eigenen Worten:
Es ist mir unmöglich, mich größer zu machen, ich muß mich ertragen, wie ich bin, mit all meinen Unvollkommenheiten. Aber ich will das Mittel suchen, um in den Himmel zu kommen, (konkret möchte Thérèse sagen: um den Gipfel der Heiligkeit zu erklimmen),auf einem kleinen Weg, einem recht geraden, recht kurzen, einem ganz neuen kleinen Weg.
4. Im Wissen um ihre unabwendbare Kleinheit, die alles versucht hat,
und überzeugt von der Ohnmacht ihrer Liebe, kommt Thérèse
auf ihrer Suche nach einer Lösung der Heiligen Schrift näher,
das heißt also, Gott selbst. Die Form der Hingabe von 1893 war ihr
nicht tief, nicht strahlend genug, um sie völlig zufriedenzustellen.
Es ging ihr alles noch nicht schnell und sicher genug. Deshalb sucht Thérèse
nun nach einem Fahrstuhl
, mit dem es unweigerlich aufwärts geht,
einem geistigen Fahrstuhl zu der höchsten Heiligkeit!
Fahrstuhl
, das ist das Bild, das sie verwendet, also etwas ganz Neues!
Auf ihrer Reise nach Rom hatte Thérèse in den Hotels, in
denen sie wohnte, Fahrstühle gesehen; in der heutigen Zeit würde
sie vielleicht von einer Rolltreppe, einer Seilbahn oder einer Rakete sprechen.
Dem Fahrstuhl, mit dem man ohne Anstrengung hinaufgelangen kann, setzt
sie die Treppe
gegenüber, auf der man mühsam hinaufsteigen
muß. Auf der Treppe hat sie es nicht geschafft …
5. Thérèse wird schließlich die befreiende Antwort
finden! Als sie in dem kleinen Heft den Text aus dem Buch der Sprüche
9,4 liest, fühlt sie sich besonders berührt: Wenn einer ganz
klein ist, so komme er zu mir.
Klein … da fühlt sich Thérèse
persönlich angesprochen! Kleinsein: danach strebte das kleine Sandkorn
schon seit langem, im Sinn von Demut. Doch Kleinsein in der Heiligkeit,
auch mit diesem Problem schlägt sie sich schon seit langem herum.
Und nun kann sie sich gerade in ihrem Kleinsein Gott nahen, Er möchte
ihr etwas sagen… So wendet sich Thérèse vertrauensvoll,
das heißt mit einem hoffnungsvollen Herzen, an Ihn, und ganz offen
macht sie sich weiter auf die Suche nach dem, was Gott ihr bezüglich
Seiner Selbst und ihres Aufstiegs auf den Gipfel ihrer Heiligkeit offenbaren
will. Und was liest sie einige Seiten weiter? Dort findet sie einen funkelnden
Diamanten, wie sie noch nie einen solchen hat leuchten sehen, Jes 66,12-13:
Wie eine Mutter ihren Sohn tröstet, so tröste ich euch, ich
werde euch auf meinen Armen tragen und auf meinen Knien schaukeln.
Wir haben die Texte so zitiert, wie Thérèse sie in ihrem
Heft vorgefunden hat. Die Jerusalemer Bibel übersetzt: Wer unerfahren
ist, kehre hier ein.
Die Ökumenische Übersetzung der Bibel führt
an: Gibt es einen unerfahrenen Menschen? Er soll herkommen.
Der Ausdruck
ganz klein
scheint in diesen Texten nicht auf, auch nicht die persönliche
Formulierung zu mir
. In dieser Fassung wäre Thérèse
über den Text wahrscheinlich hinweggegangen, ohne das Licht, das ihr
darin so hell aufgeleuchtet ist, zu bemerken. Oft kommt Gott im Zufall
zu uns! Bei einer anderen Übersetzung hätte Thérèse
auf ihre Entdeckung noch warten müssen… Oder sie hätte sie
an einer anderen Stelle gemacht… Denn die Zeit war reif, und Thérèse
hätte das, was sie nun versteht, ein andermal bekommen! Gott hätte
ihr auf eine andere Weise dieselbe Botschaft enthüllt.
Wie strahlend ist das Licht, das ihr aus dem Jesaja-Text aufleuchtet! Ach! niemals sind zartere, lieblichere Worte erfreuend in meine Seele gedrungen; der Fahrstuhl, der mich bis zum Himmel emporheben soll, Deine Arme sind es, o Jesus!
Wiederum also spricht sie in Symbolen: die Arme Jesu. Thérèse drückt damit aus, dass Gott, und nicht der Mensch aus eigener Kraft, sie zur Heiligkeit führen wird. Um welchen Preis?
Dazu brauche ich nicht zu wachsen, im Gegenteil, ich muss klein bleiben, ja, es mehr und mehr werden.
Bis sie ganz
klein ist! Dann wird Gott ihr alles schenken. Wie eine
Mutter ihrem Kind!
Nun hat Thérèse es endlich verstanden! Nun hat sie begriffen, daß ihre vorrangige Aufgabe darin besteht, aufnahmefähig, ganz empfänglich und ganz offen für die erlösende, sorgende und erhaltende Liebe zu sein, die aus dem mütterlichen Herzen Gottes kommt! Thérèse muss sich nicht mehr selbst retten! Sie akzeptiert, daß sie gerettet ist, geheiligt ist und dass sie sich deshalb vertrauensvoll Gott überlassen kann, der uns Seine unverdiente und überströmende Liebe anbietet. So steigt aus ihrem Herzen das Loblied empor:
O mein Gott, Du hast meine Erwartung übertroffen, und ich will das Lied Deiner Barmherzigkeit singen!
Vertiefen wir uns noch weiter in den Inhalt dieser an Bildern so reichen
Schrift. Gott wird darin als dem Menschen gegenüber sehr aufmerksam
beschrieben, Er lädt ihn ein, sich - so wie er ist - Seiner großen
und unentgeltlichen Zärtlichkeit in aller Freiheit zu öffnen.
Wenn der Mensch im Glauben und in Dankbarkeit nachgiebig näherkommt,
dann berührt der Herr ihn mit Seiner schöpferischen und einigenden
Liebe, die ihn wertvoll und noch liebenswerter macht, Gott selbst ähnlicher.
Die Gnade des Geistes, das lebendige Wasser
(vgl. Joh 4, 10-14), das
Erquickung und Leben bringt, das ihn durchdringt. Ich werde euch tragen
- wie eine Mutter das Kind ihrer Liebe! In der Mitte der Beschreibung von
Thérèse strahlt die Wirklichkeit der göttlichen Barmherzigkeit
auf, Gott, der ein Herz hat für den, der elend ist. Gott, der sich
zu dem herabneigt, der klein und bedürftig ist.
Der erwachsene Mensch seinerseits kann den Mut haben, vor Gott in seiner
ganzen geistigen Armut zu erscheinen, ohne Fatalismus oder Angst, sondern
voll Vertrauen. Um zu den Geladenen zu zählen - oder besser, weil
ja alle geladen sind, um sich der Gabe Gottes öffnen zu können
-, muss sich der Mensch als ganz klein
erkennen. Zu dieser Haltung
der Demut kommt man, wenn man sich aufrichtig betrachtet, so wie man ist
und so wie man von Gott geliebt ist. Bei einer Vertiefung dieser Haltung
gelangen wir vor Gott zu einer blinden Hingabebereitschaft; in einer Blindheit,
die ein helles Licht vor diesem Gott und Vater ist, wie es uns die Propheten
und Sein Sohn geoffenbart haben.
Dies ist der Kern dessen, was Thérèse intuitiv erfaßt
hat, als sie ihren kleinen Weg
entdeckt hat. Sie nennt ihn ganz neu
,
da sich nach einem langen und mühsamen Marsch durch den dunklen Wald
und das Dickicht nun vor ihr plötzlich ein gerader und lichter Weg
auftut, den sie ohne Zögern und ohne Furcht vor einem Irrtum sofort
einschlägt. Ganz neu ist dieser kleine Weg auch deshalb, weil er sich
über die Epoche des Jansenismus hinwegsetzt und die Menschen direkt
mit Jesus verbindet, der gesagt hat: Der Geist des Herrn ruht auf mir,
denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen
eine gute Nachricht bringe, damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde
und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit
setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe
(Lk 4,18-19).
Bei ihrer Entdeckung steckt die Vorstellung, die Thérèse hat, noch im Anfangsstadium. In den folgenden Jahren wird sie ihre neue und befreiende Sicht der Dinge voll verarbeiten und lernen, die Konsequenzen ihres absoluten Vertrauens im konkreten Leben in die Tat umzusetzen sowie ihre Botschaft für die anderen in eine prophetische Form zu bringen.
Wie stark verändert sich nun ihr Leben! Alle Sorge um sich selbst ist von Thérèse abgefallen. Ihr Streben nach Heiligkeit ist völlig frei geworden. Gott neigt sich ihr zu! Gott kommt ihr entgegen! Der Weg ist offen und klar.
In Thérèses Herzen erklingt ein Lied: Jesus wird mein Leben vollenden, Jesus wird mich heilig machen. Ich werde mein Bestes geben, ich werde tun, was ich kann, aber nicht ich werde es machen, der Herr wird es in mir und durch mich tun… Und wenn ich einen Fehler begehe, so wird Er alles gut machen. Vielleicht in diesem Leben, so nach und nach, oder in einer machtvollen Offenbarung Seiner Gnade - wie damals in der Weihnachtsnacht. Oder in dem Augenblick, wo wir einander für immer begegnen, wenn ich die Fülle des Lebens erlange…
Thérèse weiß es mit blendender Gewißheit: das ist mein Weg. Der endgültige Weg, dem ich folgen werde! Wenn ich ihn konsequent gehe, dann wird er dort enden, wo Gott es haben will: in dieser Fülle der Teilhabe an Seinem eigenen Leben der Liebe, das Er jedem Menschen im einzelnen vorherbestimmt hat. Gott wird mir diese Liebe schenken, die ich allein aus eigener Kraft nicht erreichen konnte, und Er wird dieser Liebe die Sprache und die Zeichen der Liebe aufprägen, vor allem das Zeichen des Vertrauens.
Das Evangelium erzählt, dass man eines Tages Kinder zu Jesus
brachte, damit Er sie berühre. Die Jünger stießen sich
daran: Kinder! Also wirklich, der Herr hat Wichtigeres zu tun! - und sie
wiesen sie rüde ab. Nun wurde Jesus Seinerseits unwillig und sagte:
Laßt die Kinder zu mir kommen; hindert sie nicht daran. Denn Menschen
wie ihnen gehört das Reich Gottes. Amen, das sage ich euch: Wer das
Reich Gottes nicht so annimmt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen
(Mk 10, 13-15). In dieser Sicht des Evangeliums beschließt Thérèse,
klein zu bleiben
. So wird sie in aller Reinheit und Einfachheit das Reich
Gottes aus den Händen des Herrn in Empfang nehmen
können.
Bleiben wir noch einen Augenblick bei zwei interessanten Details. Wir
haben gesehen, wie Thérèse fortan ihren Weg in dem Wunsch
zusammenfaßt, ganz klein
zu sein - entsprechend dem Wort, das sie
in den Sprichwörtern 9,4 gefunden hat. In den folgenden Jahren wird
sie sich gern die ganz Kleine
nennen. Das ist ihr Ideal, ihr Slogan,
ihr Leitmotiv. Und sie unterstreicht gern die beiden Worte: was bei ihr
oft bedeutet, dass es sich um ein Zitat handelt, hier also um den
stillschweigenden Bezug auf den großen Text der Heiligen Schrift,
der ihre neue Sicht ausgelöst hat. In diesen beiden Worten drückt
sie die ganze Dynamik des Vertrauens auf das treue Erbarmen Gottes aus!
Erbarmen
: seit ihrer großen Entdeckung hat dieses Wort bei Thérèse
noch einen weiteren aufschlußreichen Unterton. Natürlich kannte
sie das Wort seit langem, sie war ihm beim Lesen häufig begegnet,
sie betete es oft im Chor bei den Psalmen. Aber vor Ende 1894 kam von ihr
her kein Echo darauf. Es weckte in ihr keine Resonanz. In all ihren Schriften,
die vor dieser Zeit entstanden sind - an die 350 Seiten an Briefen, Gedichten
und Theaterstücken -, kommt das Substantiv Erbarmen
nur einmal vor,
und ebenso nur einmal das Adjektiv barmherzig
. Nach ihrer Entdeckung
finden wir allein im ersten Teil ihrer Autobiographie (das Manuskript A
umfaßt an die zweihundert Seiten) das Wort barmherzig
etwa zwanzig
Mal! Wovon das Herz voll ist, davon geht der Mund über!
Und als sich an diesem kalten Winterabend 1895 die kleine Schwester Thérèse vom Kinde Jesu und vom Heiligen Antlitz daran macht, den Prolog zu ihrer Autobiographie beim Schein ihrer kleinen Petroleumlampe zu schreiben, da steigt aus ihrem Herzen ein Lied auf zum Lob dieses Erbarmens, das sie klarer denn je wie einen roten Faden den Stoff ihrer Lebensgeschichte durchziehen sieht. An diesem Faden wird sie sich festhalten. Wie an einer reichen Verheißung hängt ihre Zukunft daran: die zweiunddreißig Monate, die sie noch hier auf dieser Erde zu leben hat.
Kleine Theologie des göttlichen Erbarmens
1895 ist für die junge Karmelitin ein wunderbares Jahr! Das glücklichste,
das sonnigste in ihrem ganzen Leben! Sie ist nun zweiundzwanzig Jahre alt
und lebt bereits seit sieben Jahren im Kloster. Sie fühlt sich dort
völlig zu Hause
. Das Ordensleben fordert sie, und ihre Gesundheit
ist nicht die beste (sie hat ein bißchen mit dem Hals zu tun), aber
noch nie hat sie ihre Berufung so einfach gesehen und gleichzeitig so reich
an Perspektiven. Aus Liebe leben
- im Februar schreibt sie ein langes
Gedicht dazu! Lesen wir einige Strophen:
Aus Liebe zu leben heißt maßlos verschenken,
nicht Trost erbetteln im trüben Hienieden.
Ich möchte stets schenken, ohne zu zählen,
ganz fest überzeugt, dass Liebe nicht rechnet! …Dem göttlichen Herzen, das zärtlich verströmt,
gab alles ich hin. Wie lauf ich so leicht nun!
Ich kenne seitdem keinen anderen Reichtum,
als leben einzig aus Liebe.Aus Liebe zu leben heißt wagen zu tragen
unsterblichen Schatz in sterblicher Schale.
Du, Gott, Du bist Liebe, doch ich reine Schwäche,
so unendlich noch ferne dem Morgensterne.Und doch, wenn ich falle auch Stunde um Stunde,
erbarmend, umarmend eilst stets Du zu mir,
um mich zu erheben, voll Gnade vergebend,
so lebe ich weiter aus Liebe.(Gedicht 17, aus: Ernst Gutting, Nur die Liebe zählt, Seite 91/92)
In der Kommunität geht es Thérèse gut. Ihre Talente
sind anerkannt, und sie kann sie auch nützen. Wenn sich die Gelegenheit
ergibt, darf sie malen, und in gewisser Weise ist sie die Dichterin der
Kommunität geworden. Gibt's ein Jubiläum, eine Einkleidung oder
eine Profeß, dann wendet man sich an die Adresse: Schwester
Thérèse! Für den Namenstag der Priorin, der Laienschwestern
oder für die Weihnachtsrekreationen schreibt Schwester Thérèse
auch manchmal ein kurzes Theaterstück! In etwas mehr als vier Jahren
verfaßt sie acht Theaterstücke (davon zwei sehr bedeutende über
Jeanne d'Arc, das Ideal ihrer vierundfünfzig Gedichte. Und nun bittet
Schwester Agnès sie, ihre Jugenderinnerungen
niederzuschreiben!
Dazu pflegt sie manchen Briefverkehr. Und vor allem …
Und vor allem hat Thérèse alle Hände voll zu tun
mit ihren Novizinnen! Als Agnès im Februar 1893 Priorin wurde, bat
sie ihre zwanzigjährige Schwester, für Marie de Gonzague, die
offizielle Novizenmeisterin, Noviziatsgehilfin zu sein. Thérèse
betrachtet sich als den kleinen Hüterhund
(Brief 167) der Hirtin!
Am Anfang ist ihre Arbeit nicht besonders schwer. Schwester Marthe ist
die einzige Novizin; sie ist nicht sehr gescheit, versteht sich aber gut
mit Thérèse. Sechs Monate später tritt Schwester Marie-Madeleine
ein, so wie Schwester Marthe als Laienschwester: die Priorin weist sie
an, sich jeden Sonntag eine halbe Stunde lang mit Thérèse
zu unterhalten, aber jeden Sonntag tut die verschlossene Gesprächspartnerin
alles, um sich vor dem Gespräch zu drücken! In der Zwischenzeit
hätte Thérèse, da sie schon drei Jahre Profeß
hat, das Noviziat verlassen sollen - ohne jedoch je das Stimmrecht im Kapitel
zu bekommen, weil es bereits zwei ihrer Schwestern im Konvent gibt -, aber
sie bittet, im Noviziat bleiben zu dürfen, was ihr auch wegen ihres
jugendlichen Alters gewährt wird! Sie wird bis zu ihrem Tod darin
bleiben….
Ab Sommer 1894 wird es für die Noviziatsgehilfin ernst! Im Juni tritt Marie de la Trinité ein, eine sehr lebhafte Pariserin, die Thérèse sehr gern mag, die einzige ihrer derzeitigen und künftigen Novizinnen, die jünger ist als sie… Drei Monate später kommt Céline - die vierte Martin! - und elf Monate später ihre Kusine Marie Guérin!
Was für eine Freude ist es für sie, als die Priorin Agnès
sie fragt, ob sie besonders für einen jungen Seminaristen, Maurice
Bellière, beten und opfern wolle! Ein zukünftiger Priesterbruder
!
Thérèse, die niemals kleine Brüder gehabt hat (unter
den vier verstorbenen Kindern ihrer Familie befanden sich zwei Buben),
ist überselig! Sie schreibt:
Es wäre ein Ding der Unmöglichkeit, Ihnen mein Glück zu schildern… Niemals in diesen Jahren hatte ich diese Art von Glück verkostet. Ich fühlte, in diesem Bereich war meine Seele neu, es war, als hätte man zum erstenmal bisher vergessene Saiten berührt(C 266).
Im Licht ihrer kürzlichen Entdeckung ihres ganz neuen kleinen
Weges
sieht Thérèse alles in einen Ozean göttlichen
Erbarmens getaucht! Natürlich legt sie, als es Anfang 1895 darum geht,
ihre Jugenderinnerungen niederzuschreiben, den Akzent auf das Erbarmen
des Herrn
(A 4)!!!…
Die drei Rufzeichen, gefolgt von den zehn Punkten, lassen darauf schließen, daß dieses Erbarmen besser ist als alles, was man davon sagen kann!
Der Prolog zu ihrer Autobiographie (A 3-9) ist eine tiefe Meditation.
Thérèse betrachtet ihr Leben als Gegenstand eines großen
Geheimnisses
. Aber dieses Geheimnis ist nicht unergründlich. Es
ist durchsichtig und vertraut geworden. Und es begegnet dir ganz unerwartet,
ohne dass du es vermutest. Es geht nicht darum, würdig zu sein
,
sondern dass es Jemanden gibt, dem dies zur Freude gereicht. Thérèse
beruft sich dabei auf den heiligen Paulus (Röm 9,15-16): Gott schenkt
Erbarmen, wem Er will, und erweist Gnade, wem Er will. Also kommt es nicht
auf das Wollen und Streben des Menschen an, sondern auf das Erbarmen Gottes.
Warum gibt es dieses Geheimnis
in Gott? Woher kommt es, dass
manche offensichtlich mehr Nutzen daraus ziehen als andere? Warum, so fragt
sich Thérèse, wird einem Paulus, einem Augustinus - und sie
hätte sich ihnen anschließen können, aber sie denkt nicht
einen Augenblick daran - so überreiches Erbarmen zuteil, während
andere niemals außerordentliche Gnaden
empfangen? Warum gibt Gott
in Seinem Herzen manchen einen solchen Vorzug
?
Diese Prädestination
war für die junge Kontemplative lange
Zeit
ein Problem. Nun hat sie ein Licht erhalten, das sie so ein ganz
klein wenig zufriedenstellt. Der Herr hat sie durch das Buch der Natur
belehrt. Thérèse liebte dieses Buch! Eines Tages hatte sie
Céline geschrieben:
Wenn Jesus in der Ordnung der Natur so wunderbare Dinge unter unseren Füßen ausstreut, geschieht es nur, um uns zu helfen, die verborgensten Geheimnisse zu erraten, die Er in den Seelen wirkt und die einer höheren Ordnung angehören… (Brief 134).
Hier hat ihr die Natur von neuem etwas über die tiefen Absichten
Gottes enthüllt. Thérèse entdeckt in der Vielzahl der
bunten Blumen ein Bild für den Heilsplan Gottes mit den Menschen.
Jeder, ob klein oder groß, verherrlicht den Herrn auf seine Weise.
Die Kleinen sind deshalb nicht weniger vollkommen. Wenn sie sich voll entfalten,
sind sie in den Augen Gottes vollkommen - so wie jede Blume schön
ist. Was ist denn die Vollkommenheit in den Augen Gottes? Thérèse
gibt darauf eine meisterliche Antwort: Die Vollkommenheit
besteht darin,
daß wir sind, wie Er uns haben will
- und also auch schließlich,
mit Hilfe Seines Erbarmens so zu werden, wie Er uns haben will. Man kann
dies nicht klarer ausdrücken. Seit kurzem ist die Heiligkeit problemlos
für sie geworden!
Und es folgt noch eine zweite, tiefere, theresianischere Antwort. Die Kleinen sind berufen, die Güte Gottes noch heller auszustrahlen! Das ist ihre besondere Mission. Das Wirken der Gnade kann im kleinsten genauso fruchtbar werden wie im begabtesten Menschen, wenn er sich immer Gott zuwendet.
Ich begriff, dass die Liebe unseres Herrn sich ebenso gut in der einfachsten Seele, die in nichts Seiner Gnade widersteht, offenbart, wie in der erhabensten.
Ja, ohne diese Ärmsten könnte sich Gott nicht groß genug zeigen,es würde scheinen, dass der liebe Gott nicht tief genug herabsteigen würde.
Aber indem Er sich so tief herabneigt - wie zu einem Kind oder einem ganz einfachen Menschen, sagt Thérèse -, zeigt Gott Seine unendliche Größe.
Unsere Armut kann Sein Erbarmen nicht aufhalten!
So wie die Sonne zugleich die Zedern und jede kleine Blume bescheint, als wäre nur sie auf der Erde, so befaßt sich unser Herr mit jedem einzelnen Menschen, als ob er seinesgleichen nicht hätte. Und wie in der Natur alle Jahreszeiten so geordnet sind, dass an dem ihm bestimmten Tag das bescheidenste Gänseblümchen erblühen kann, so wirkt alles zusammen zum Wohl einer jeden Seele.
Dann kommt Thérèse auf ihre persönliche Geschichte
zurück. Was würde das Schreiben einer Autobiographie anderes
bedeuten, als die Wohltaten
Gottes zu erzählen, das ganz und gar
freie Entgegenkommen Jesu
? Sie denkt nicht daran, dabei ihre eigene Mitarbeit
hervorzustreichen; seit sie in der Spielbank der Liebe spielt, sind ihre
Gewinne nicht mehr offengelegt:
Sie erkannte, dass nichts in ihr es vermochte, den göttlichen Blick auf sich zu ziehen, und dass Sein Erbarmen allein alles, was es in ihr an Gutem gibt, gemacht hat …
Der neue Zugang zur Liebe findet seinen Ausdruck, als Thérèse
festhält, dass es der Liebe eigen ist, sich herabzuneigen
.
Das gilt nicht für jede Liebe. In meiner Zuneigung zu einem Freund
gibt es kein Hinabneigen, wir befinden uns auf demselben Niveau; im Gegenteil,
in der Bewunderung für ihn hebe ich meine Augen zu ihm empor; die
Haltung des Herabsteigens würde die Freundschaft eher behindern. Ebenso
ist die freundschaftliche Liebe der Drei Personen, die in Gott Eins sind,
frei von jedem Herabneigen. Aber wenn Gott den Menschen liebt - und daran
denkt Thérèse -, so ist das wesenhaft eine Liebe zwischen
ungleichen Partnern, wo der Größere dem Kleineren die Hand hinstreckt.
Gott ist es, der den Menschen aus Liebe ins Sein ruft, der ihn liebevoll
begleitet und es ihm durch die Offenbarung möglich macht, Ihn wieder
zu lieben, nicht als den unzugänglichen Gott, sondern als einen schöpferischen
und offenen Vater, einen Bruder, der rettet.
In der Umarmung Gottes
Alles ist Gnade (IGL 60), sagt Thérèse. Aber in jedem Leben gibt es Umstände, wo man nicht auf Anhieb das Gnadenwirken einsieht. Erst wenn einige Zeit verstrichen ist, erkennt man im Lichte Gottes, wie Er uns mit Seiner Liebe begleitet hat, auch in den gewöhnlichsten oder schmerzlichsten Situationen. Die Gnade ist also wie eine Grundierung, die nach einer langen Zeit durch die obere Farbschicht hindurchleuchtet. So kann die Vergangenheit ein anderes Gesicht erhalten. Man durchschaut seine Vergangenheit nie endgültig.
Wenn Thérèse sich nun regelmäßig mit ihrer Vergangenheit befaßt, so wird sie sich immer mehr dessen bewußt, daß ihr ganzes Leben von Gott geführt ist. Das freie Erbarmen Gottes, schreibt sie,ist das Geheimnis meiner Berufung, meines ganzen Lebens und vor allem der Vorrechte Jesu auf meine Seele. (A 4).
Thérèse hätte sich von Gott abwenden können, ihre Zeit verlieren, vielleicht auch den Weg verlassen, auf dem Gott sie haben wollte. Sie sagt von ihrer Reise nach Alençon : Ich wurde gefeiert, verwöhnt, bewundert… Ich gestehe, dieses Leben hatte Anreiz für mich. Das Herz läßt sich leicht blenden, und ich betrachte es daher als eine große Gnade, dass wir nicht in Alençon blieben; unsere Freunde dort waren zu weltlich, sie verstanden es allzu gut, die irdischen Vergnügungen mit dem Dienst für Gott in Einklang zu bringen (A 67). Und zu ihrer intensiven Freundschaft mit Jesus: Mit einem Herzen wie dem meinen hätte ich mich fangen und mir die Flügel beschneiden lassen (A 80).
Nun erkennt sie voll Dankbarkeit, dass ihr Herz von seinem ersten Erwachen an zu Gott erhoben war (A 84). Und wie sehr wendet sich dieses Herz jetzt erst Gott zu, in ihrem Leben des Gebetes, das sie allein zur Ehre Gottes und aus Liebe zu Ihm Gott geschenkt hat, wo sie berufen ist, dieser einzigen Liebe jede andere Liebe, zu Menschen und zu Dingen, unterzuordnen und sie zu leben
Wenn sie über all das nachdenkt, kommt Thérèse die Gestalt Magdalenas in den Sinn. Sie fühlt sich ihr im Grunde ihres Herzens so nahe. Mit einer Natur wie der meinen… wäre ich sehr böse geworden und vielleicht gar verloren gegangen (A 19).
Es ist keineswegs mein Verdienst, dass ich mich der Liebe zu
den Geschöpfen nicht ergeben habe, da ich einzig durch die große
Barmherzigkeit des lieben Gottes davor bewahrt wurde!… Ich erkenne an,
daß ich ohne Ihn ebenso tief hätte fallen können wie die
heilige Magdalena, und das unergründliche Wort Unseres Herrn an Simon
hallt mit großer Innigkeit in meiner Seele wider… Ich weiß:
Wem weniger vergeben wird, der liebt weniger
(Lk 7,47), ich weiß
aber auch, dass Jesus mir mehr vergeben hat als der hl. Magdalena,
denn Er hat mir im voraus vergeben, indem Er mich vor dem Fall bewahrte
(A 80/81).
Thérèse ist überzeugt, dass man mehr liebt, wenn man die Steine des Anstoßes wegräumt, als wenn man jemandem nach dem Fall hilft, sich wieder zu erheben. Das hat Gott für sie getan, indem Er die Fallen und die Steine wegräumte, an denen sie hätte straucheln können. Infolgedessen fühlt sie sich von Christus mehr geliebt, der nicht für die gekommen ist, welche von ihrer eigenen Tugend überzeugt sind, sondern für die Sünder (vgl. Mt 9,13).
Was folgert sie daraus? Er will, dass ich Ihn liebe, weil Er mir nicht nur vieles, sondern alles vergeben hat. Er wartete nicht, bis ich Ihn sehr liebte, wie die hl. Magdalena, sondern Er wollte, dass ich weiß, wie Er mich mit einer Liebe von unsagbarer Vorsorge geliebt hat, damit ich Ihn jetzt bis zum Wahnsinn liebe!… Ich habe sagen hören, es sei noch nie vorgekommen, dass eine reine Seele mehr geliebt hätte als eine reuige, oh! wie gern möchte ich dieses Wort Lügen strafen!… (A 81/82).
Eine intuitive Erkenntnis des göttlichen Erbarmens, von der alles getragen wird, hat ihr geholfen, diese große Spitzfindigkeit zu entlarven! Die Reinheit ihres Herzens macht sie arm und demütig, und sie ist sich dessen bewußt, dass sie alles empfangen hat.
Thérèse schreibt weiterhin regelmäßig in ihr Heft, was für sie eine lange und fruchtbare Betrachtung bedeutet. Die Vergangenheit wird wach und erweckt in ihr eine neue Begeisterung und tiefe Dankbarkeit. Indem sie sich ihren Erfahrungen stellt, hört sie Gott, der zu ihr spricht.
Der Dreifaltigkeitssonntag, 9. Juni 1895, ist ein strahlender Frühlingsmorgen! Und im Herzen Thérèses wird sich während der EucharistieDie Eucharistie - von griechisch „ευχαριστειν, Dank sagen” - vergegenwärtigt das heilvolle Sterben Jesu Christi. Die Römisch-Katholische, die Orthodoxe und die Anglikanische Kirche nennen diese Mahlfeier im Anschluss an 1. Korintherbrief 11, 24 Eucharistie, die Evangelischen Kirchen sprechen von „Abendmahl” im Anschluss an Markusevangelium 14, 17 und 1. Korintherbrief 11, 23.feier eine wunderbare Begegnung vollziehen. Plötzlich empfängt sie - in aller Stille bereits durch ihre kürzliche Entdeckung der mütterlichen Liebe Gottes und durch die Rückschau auf das Wirken Gottes in ihrem Leben vorbereitet - die Gnade, klarer denn je zu verstehen, wie sehr Jesus sich danach sehnt, geliebt zu werden (A 185/186).
Wie sehr sehnt Jesus sich danach, geliebt zu werden. So schreibt sie es nieder. Aber die grammatikalische Wendung im Passiv beinhaltet eine Überraschung. Geliebt zu werden bedeutet bei Jesus, dass man Ihm erlaubt, uns aktiv zu lieben. Und für uns bedeutet lieben, dass wir uns von Ihm lieben lassen. Jesus wird geliebt, wenn Er dich ganz lieben kann, du liebst Jesus, wenn du dich ganz lieben läßt.
Thérèse erklärt es uns so: Ich dachte an jene Seelen, die sich der Gerechtigkeit Gottes als Opfer anbieten, um die für die Schuldigen vorgesehenen Strafen abzuwenden und auf sich zu lenken (A 186).
Dies ist also der Ausgangspunkt für ihre Eingebung! Die strenge
Gerechtigkeit Gottes wurde in dieser vom Jansenismus gefärbten Zeit
tatsächlich sehr geschätzt. Ein Buch über die Spiritualität
des Karmelordens mit dem schönen Titel Schatz des Karmel
empfahl
die Ganzhingabe seiner selbst an die Gerechtigkeit und sah darin sogar
eines der Ziele des Ordens. (Pater Piat sagte zurecht, dass gewisse
Seiten in diesem Werk von einem allzu strengen, ja sogar unterdrückenden
Geist zeugen.) Im Karmel von Lisieux gab es Ordensfrauen, die diese großherzige
Ganzhingabe vollzogen hatten. An diesem Morgen, als Thérèse
sich plötzlich gedrängt fühlt, sich Gott noch intensiver
zu schenken, denkt sie in einer ersten Reaktion an diese Art der Hingabe,
empfindet jedoch keinerlei Sympathie dafür. Wie sollte sie, ein kleines
Geschöpf, eine so erdrückende Leidenslast auf ihre zerbrechlichen
Schultern nehmen können?
Das Licht, das sie an diesem Morgen blendet, ist so freundlich. Alles ist in diese Sonne göttlichen Erbarmens getaucht, die für sie seit Monaten am Horizont immer höher aufgeht. Und mit glühender Liebe betet sie: O mein Gott, soll denn nur Deine Gerechtigkeit Seelen empfangen, die sich als Schlachtopfer darbringen?… Bedarf denn Deine erbarmende Liebe ihrer nicht ebenso?… Von allen Seiten wird sie verkannt, verworfen; die Herzen, an die Du sie verschwenden möchtest, kehren sich den Geschöpfen zu und erbetteln von ihrer erbärmlichen Zuneigung das Glück, statt sich in Deine Arme zu werfen und Deine unendliche Liebe anzunehmen… O mein Gott! Soll Deine verschmähte Liebe nunmehr in Deinem Herzen verbleiben? Fändest du Seelen, die sich Deiner Liebe als Ganz- Brandopfer darböten, ich meine, Du würdest sie schnell verzehren; mir scheint, Du wärest glücklich, die Fluten unendlicher Zärtlichkeit, die in Dir sind, nicht länger zurückzudrängen… O mein Jesus, laß mich dieses glückliche Opfer sein, verzehre Dein Brandopfer mit dem Feuer Deiner göttlichen Liebe!… (A 186).
Und Thérèse opfert sich auf.
Nach der Feier der EucharistieDie Eucharistie - von griechisch „ευχαριστειν, Dank sagen” - vergegenwärtigt das heilvolle Sterben Jesu Christi.
Die Römisch-Katholische, die Orthodoxe und die Anglikanische Kirche nennen diese Mahlfeier im Anschluss an 1. Korintherbrief 11, 24 Eucharistie, die Evangelischen Kirchen sprechen von „Abendmahl” im Anschluss an Markusevangelium 14, 17 und 1. Korintherbrief 11, 23.
macht sie sich daran, einen Akt der
Hingabe
zu verfassen. Das zeigt, wie ernst ihr dieser Entschluß
ist: es handelt sich dabei um eine endgültige Schenkung! Dieses Dokument
bezeichnet einen feierlichen und besonderen Moment auf ihrem geistigen
Weg.
Die Übereinstimmung des kleinen Weges der Kindschaft
und dieser
Selbsthingabe
ist verblüffend. Es wäre weit gefehlt zu meinen,
daß die geistige Kindschaft die eine Sache wäre und die Hingabe
an die erbarmende Liebe eine andere. Von nun an gibt es eine innere Einheit
im Leben Thérèses, alles kreist um dieselbe Achse, und die
Hingabe
fügt sich nahtlos in ihr Verständnis vom kleinen Weg
.
Sehen wir uns diesen Akt
näher an. Er beginnt wie folgt: O
mein Gott! Glückselige Dreifaltigkeit, ich verlange danach, Dich zu
lieben und dahin zu wirken, dass Du geliebt wirst… Ich verlange
danach, Deinen Willen vollkommen zu erfüllen… mit einem Wort, ich
verlange danach, heilig zu werden, aber ich fühle meine Ohnmacht,
und ich bitte Dich, o mein Gott! sei Du selbst meine Heiligkeit (Selbstbiographie,
Anhang, Seite 280).
Das Ziel (die Heiligkeit), die gegebene Situation (ihr Unvermögen) und die Lösung (das heiligende Wirken Gottes selbst) sind nichts Neues: diese Wirklichkeiten waren in der entscheidenden Stunde, wo Thérèse ihren kleinen Weg vor mehr als sechs Monaten entdeckte, ein zentrales Thema.
Dann spricht die junge Karmelitin von der Grundlage für die vertrauensvolle
Bitte, die sie an Gott richtet und die nichts anderes ist als das Geschenk
und die Verdienste der Menschheit Jesu, verherrlicht von der Liebe und
den Verdiensten Mariens, der Engel und der Heiligen. Im Bewußtsein,
daß der Vater uns alles geben wird, worum wir im Namen Jesu bitten
(Joh 16,23), argumentiert Thérèse - so wie bei der Erklärung
ihres kleinen Weges
- damit, dass die großen Wünsche
in ihrem Herzen doch nicht ohne Sinn sein können: Ich weiß
es, o mein Gott! Je mehr Du geben willst, umso mehr steigerst Du das Verlangen.
(Sie entlehnt diesen Gedanken bei Johannes vom Kreuz.) Ich fühle in
meinem Herzen unermeßliche Wünsche, und voll Vertrauen bitte
ich Dich, zu kommen und von meiner Seele Besitz zu ergreifen (Anhang
281).
Nach einer Abschweifung - Gebet der Liebe, des Dankes und der Hoffnung - erneuert Thérèse ihr früheres Vorhaben, in völliger Abhängigkeit von Gottes zuvorkommendem Erbarmen zu leben, dem sie sich ohne Vorbehalt anvertraut, und sie verspricht dies als ein Gelübde vollkommener geistlicher Armut: Ich will keine Verdienste für den Himmel anhäufen, ich will einzig um Deiner Liebe willen arbeiten, in der alleinigen Absicht, Dich zu erfreuen, Dein Heiligstes Herz zu trösten und Seelen zu retten, die Dich ewig lieben werden. Am Abend dieses Lebens werde ich mit leeren Händen vor Dir erscheinen, denn ich bitte Dich nicht, Herr, meine Werke zu zählen. Alle unsere Gerechtigkeiten sind befleckt in Deinen Augen. Ich will mich also mit Deiner eigenen Gerechtigkeit bekleiden und von Deiner Liebe den ewigen Besitz Deiner selbst empfangen. Ich will keinen anderen Thron und keine andere Krone als Dich, o mein Viel-Geliebter!… (Anhang 281).
Thérèse weiß, dass das erbarmende Eingreifen Jesu all unsere eigenen Bemühungen um vieles übersteigt: In einem Augenblick kannst Du mich bereit machen, vor Dir zu erscheinen.
Und dann folgt die eigentliche Hingabe, der konsequente Schritt, nachdem sie die erbarmende Liebe Gottes erforscht hat: Um in einem Akt der vollkommenen Liebe zu leben, weihe ich mich als Ganz- Brandopfer Deiner barmherzigen Liebe und bitte Dich, mich unablässig zu verzehren, die Ströme unendlicher Zärtlichkeit, die in Dir beschlossen sind, in meine Seele überfließen zu lassen, damit ich eine Märtyrerin Deiner Liebe werde, o mein Gott!… Möge dieses Martyrium, nachdem es mich vorbereitet hat, vor Dir zu erscheinen, mir endlich den Tod geben und meine Seele sich ohne Verzug aufschwingen in die ewige Umarmung Deiner barmherzigen Liebe… Ich will, o mein Viel-Geliebter, mit jedem Schlag meines Herzens Dir diese Weihe erneuern, unzählige Male, bis ich, wenn die Schatten schwanden, Dir in einem ewigen Von-Angesicht-zu-Angesicht meine Liebe beteuern darf!… (Anhang 282).
Thérèse hat sich in einem gewaltigen Akt liebenden Vertrauens über die Grenzen ihrer Armut und die ihrer Zeit hinweggesetzt und sich dem erbarmenden Herzen des Allerhöchsten zugewandt, in dem Verlangen, all die leeren Hände, die sich Ihm entgegenstrecken, mit umfassender Hoffnung zu füllen.
In einem gewissen Sinn verlangte der kleine Weg
nach einer solchen
Hingabe
. Sie ist gleichsam das Herz des kleinen Weges
und der Ausdruck
in Form eines Gebetes. In Verbindung mit dieser Hingabe kann man sehr gut
von Fortschritt, Tiefenwachstum sprechen, in dem Sinn, dass Thérèse
ihren kleinen Weg tiefer lebt und versteht - es sind ja in der Tat sechs
Monate vergangen. Besser denn je
hat Thérèse die erbarmende
Liebe Gottes verstanden, besser denn je geht sie ganz darin auf, und diese
Hingabe wird zu ihrer zweiten Natur.
Drei Dinge sind hier nun festzustellen:
Die symbolische Sprache, die Thérèse in ihrem Akt der
Hingabe und in A 186-187 verwendet, unterscheidet sich wesentlich von ihrer
Beschreibung des kleinen Weges
. Dort gebraucht Thérèse
Bilder wie Sandkorn
, Gipfel des Berges
, Kind
, Fahrstuhl
und die
Arme
, die sie tragen. Abgesehen von den Armen
(die nicht tragen, sondern
in die hinein man sich wirft) kommen all diese Begriffe im Akt ihrer Hingabe
nicht vor. Da spricht sie von Fluten
, die überströmen
, vom
Opfer
, das vom Feuer
verzehrt
werden muss - und auch davon,
daß man sich mit der göttlichen Gerechtigkeit bekleiden
muss,
von einem Thron
und von einer Krone
, die Gott selber sein wird. Aber
der Inhalt, um den es geht, der Kern der Erfahrungen, ist derselbe. Von
nun an ist in den Augen Thérèses die Liebe Gottes ihrem Wesen
nach barmherzig und das Erbarmen wesentlich von der Liebe geprägt.
Jedenfalls kann man feststellen, dass der Ausdruck erbarmende Liebe
in Thérèses Wortschatz nicht mehr oft aufscheinen wird. Für
sie würde das eine Art Pleonasmus bedeuten, wenn sie in zwei Worten
dasselbe ausdrücken wollte, was man in einem Wort sagen kann! Künftighin
genügt ihr ein einziges Wort: Liebe
! Schlicht und einfach Liebe,
denn in ihren Augen ist die Liebe, die Gott zu uns hat, in ihrem Wesen
barmherzig. Als Thérèse am Ende des ersten Teiles ihrer Autobiographie
eine Liste der denkwürdigen Ereignisse in ihrem Leben erstellt, nennt
sie den 9. Juni 1895 ganz einfach: meine Hingabe an die Liebe
.
Um nun an ein Ende zu kommen: Von pastoraler Sicht her gesehen bedeutet
der Geist, in dem Thérèse diese Hingabe an die erbarmende
Liebe vollzieht, nicht eine Art magische Formel, einen kleinen geistlichen
Trick
: nämlich diese Hingabe ein für alle Mal auszudrücken,
und damit Schluß
bis ans Ende ihrer Tage! Nein, die vertrauensvolle
Ausrichtung auf Gott hin muss ganz zum Teil ihres Lebens werden, wie
der Herzschlag
, von dem Thérèse spricht. Mehr als in bloßen
Worten muss die Hingabe im konkreten Leben immer wieder erneuert werden,
sie fordert ein freudiges und unermüdliches Herausgehen aus sich selbst,
und dass man sich vertrauensvoll Gott schenkt. Denn so wird man Sein
tiefstes Wesen besser verstehen! Gott will die Liebe sein! Seine Ekstase
ist die Liebe, das Leben der Heiligsten Dreifaltigkeit, Sein Mysterium,
das Geheimnis, warum Er alles ins Dasein rief, ohne etwas dafür zu
verlangen, und das der Erlösung und des Himmels.
Die Fluten der Gnade
Ihre Hingabe an die Liebe ist für Thérèse ein Höhepunkt
und gleichzeitig der Anfang eines neuerlichen Aufstiegs. 1895 ist für
sie wirklich das Jahr
des göttlichen Erbarmens! Dieser 9. Juni hat
all ihre Kräfte freigesetzt! Die Dämme sind tatsächlich
gebrochen, und die Fluten der göttlichen Liebe, die sie in ihrem Akt
der Hingabe angesprochen hat, überströmen die Erde ihrer Seele.
Es ist eine Festzeit, die vor Leben prickelt! Eine Überfülle
an Freude und an Gotteserfahrung. Denn noch niemals war das Leben der Kontemplativen
von einer solch fühlbaren Gegenwart Gottes beherrscht. Die Wüste
von einst hat sich verwandelt. Auf den kahlen Hügeln lasse ich Ströme
hervorbrechen und Quellen inmitten der Täler; ich mache die Wüste
zum Teich und das ausgetrocknete Land zur Oase
(Jes 41,18). Im Herzen
Thérèses fließen die Ströme lebendigen Wassers
,
welche Jesus versprochen hat (Joh 7,38-39).
Diese Periode im Leben von Thérèse trägt eindeutig mystische Charakterzüge. Sechs Monate nach ihrer Weihe an die Barmherzigkeit erwähnt sie diese neue Sintflut: Sie wissen, welche Ströme oder vielmehr Ozeane von Gnaden meine Seele überflutet haben… Oh! Seit jenem glücklichen Tag will mir scheinen, dass die Liebe mich durchdringt und mich ganz umgibt; mir scheint, diese erbarmende Liebe erneuert mich in jedem Moment, sie reinigt meine Seele und läßt in ihr nicht die Spur von Sünde zurück (A 186/187).
Das heißt, in Gottes Hand zu leben! Was ist ihre einzige Reaktion darauf? Jetzt habe ich keinen Wunsch mehr außer dem einen, Jesus bis zum Wahnsinn zu lieben (A 183).
Wie sehr fehlt aber bei diesem Wunsch jeder persönliche Ehrgeiz und jeder Wille, eigenständig zu handeln! Der Weg zur Heiligkeit ist klar vorgezeichnet: Ich hege immer dasselbe verwegene Vertrauen, eine große Heilige zu werden, denn ich zähle nicht auf meine Verdienste, da ich gar keine besitze, sondern hoffe auf Den, der die Tugend, die Heiligkeit selbst ist. Er allein, der sich mit meinem schwachen Bemühen begnügt, wird mich bis zu sich erheben und mich heilig machen, indem Er mich mit Seinen unendlichen Verdiensten bedeckt (A66/67).
Wie sehr ist ihre Hoffnung auf Gott hin ausgerichtet und nicht in ihr selbst begründet, sondern in der Liebe, die Jesus zu uns hat - Jesus, der imstande ist, unsere Fehler und Schwächen aufzubrechen und uns offen zu machen für Seine Geschenke. Sich gänzlich Ihm zu überlassen, das ist es, wovon sie träumt!
Ich sehne mich nicht mehr nach dem Leiden oder dem Tod, wenngleich mir beide teuer sind. Doch nur die Liebe allein zieht mich noch an… Jetzt leitet mich nur noch die Hingabe, ich habe keinen anderen Kompaß! Um nichts kann ich mehr mit Inbrunst bitten als darum, dass sich der Wille des lieben Gottes an meiner Seele vollkommen erfülle (A 183).
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