Ökumenisches Heiligenlexikon

Mit leeren Händen

Die Botschaft der Thérèse von Lisieux

Drei Bilder

Drei Bilder können uns zeigen, wie Thérèse ihr Wachsen in der Heiligkeit erlebt hat.

Ein Flug in den Weltraum

Das erste Bild ist das eines Universums, das in Ausdehnung begriffen ist.

Wenn wir Gott mit den Sphären des Weltalls vergleichen, können wir sagen, dass es dem Menschen durch die Liebe (denn Gott ist Liebe) gestattet ist, in diese Sphäre einzudringen. Aber je mehr er liebt, und je tiefer er in Gott eindringt, desto mehr scheint es ihm, dass Gottes Universum sich ausdehnt.

Tatsächlich wird in den Augen des Menschen, der Gott liebt, Gott immer liebenswerter. Je mehr er Gott besitzt, desto mehr ist er sich dessen bewußt, dass Gott für ihn noch nicht erfaßbar ist. Aus Gnade in das Leben Gottes hineingenommen, hat er Anteil an Gott und wünscht gleichzeitig, Gott mehr zu besitzen. So wird die Sphäre immer größer. Durch seine wachsende Liebe nähert sich der Mensch immer mehr der Mitte Gottes, er kommt immer tiefer, aber dadurch, daß sich das Universum immer mehr ausdehnt, entfernt sich die Tiefe Gottes in gewisser Weise noch rascher vom Menschen. Je schneller der Mensch voranschreitet, desto schneller weicht die Mitte Gottes zurück. Der Ausspruch des heiligen Augustinus bestätigt sich immer mehr: Deus intimior intimo meo, altior summo meo: Gott ist mir gegenwärtiger, als ich es mir bin, aber Er ist auch höher als jede Höhe, die ich je in mir erreichen kann.

Jeder Vergleich hinkt. Auch unserer, denn Gott hat keine Mitte. Wenn man die Liebe Gottes lebt, dann ist man in Gott, der unteilbar ist. Aber die Pointe bei unserem Vergleich liegt darin, dass mit dem Wachsen der Liebe, durch die Gott sich uns mitteilt, wir uns immer mehr dessen bewußt werden, dass Er noch mehr geliebt werden kann und auch mehr geliebt werden sollte. Die Liebe ist ein Perpetuum mobile, ständig in Bewegung, aber nie vollendet. Sie ist ein Exodus sine fine, ein Herausgehen aus sich selbst ohne Ende. Und soweit, wie uns diese größere Liebe entgleitet, wird uns die Heiligkeit als Ideal geschenkt.

Angesichts unseres Unvermögens, Gott auf dieser Erde würdig genug zu lieben, selbst wenn wir alle Gelegenheiten zu lieben ausschöpfen würden, bleibt uns mehr denn je nichts anderes übrig, als zu Gott zu beten, Er möge das Unmögliche möglich machen und sich selbst mit einem Schlag und in Seiner ganzen Fülle dem Menschen, der liebt, mitteilen. Obwohl dieser weiß, dass diese Fülle der Mitteilung erst im Himmel völlig unverhüllt möglich sein wird, kann er sich nicht enthalten, schon jetzt darum zu bitten. Wenn Gott ihn dann scheinbar erhört und ihn tiefer in sich hineinnimmt, was den Abstand zu verringern scheint, so wird das Drama der Sehnsucht nur umso größer.

Und so geht es unaufhörlich weiter: je mehr Thérèse liebt, desto mehr möchte sie lieben. Wenn das schon bei einer idealen menschlichen Liebe so ist, wie könnte es dann in einer idealen göttlichen Freundschaft anders sein? Mit einem Lächeln vergleicht Thérèse ihre Auffassung von Heiligkeit, als sie vierzehn Jahre alt war, mit der aus der Sicht der erwachsenen Christin: Zu Beginn meines geistlichen Lebens, als ich etwa dreizehn bis vierzehn Jahre alt war, fragte ich mich, was ich wohl später dazuerwerben sollte, denn ich hielt es für unmöglich, die Vollkommenheit noch besser zu erfassen; aber ich erkannte recht bald, dass man, je mehr man auf diesem Wege fortschreitet, sich umso weiter vom Ziel entfernt glaubt; jetzt habe ich mich damit abgefunden, mich stets unvollkommen zu sehen, und ich finde hierin meine Freude… (A 163/164).

Je näher sie also kommt, desto weiter wähnt sie sich vom Ziel! So wird sie auch niemals ein Maximum an Liebe erreichen. Ihre gegenwärtige Liebe kommt nicht an ihre Träume heran. Jedesmal muss ihre Liebe zur Hoffnung auf Gott werden.

Von Gipfel zu Gipfel

Das zweite Bild ist das eines gewundenen Bergpfades. Unsere eigenen Urlaubserfahrungen lehren uns, welchen Illusionen - und welcher Begeisterung - wir beim Aufstieg auf einen Berg erliegen können. Wir sehen einen Gipfel und denken: gleich sind wir oben. Kaum sind wir angekommen, sehen wir einen anderen, noch höheren Punkt. So schreiten wir von Höhe zu Höhe, bis wir schließlich den letzten Gipfel erreichen.

Dieses Bild kann man auf das Wachsen des Menschen auf Gott hin anwenden, mit dem Unterschied, dass es auf dem Marsch zu Gott keinen letzten Gipfel gibt. Die echte Liebe sieht vor sich immer wieder einen neuen Gipfel auftauchen. Gott ist immer weiter. Gott zu lieben, wie Er uns liebt, entpuppt sich als ein Traum, eine niemals ganz eingeholte Realität, die auch nie erreicht werden kann, weil der Mensch nie Gott werden kann, er ist nur nach Seinem Abbild geschaffen (Gen 1,26), und das bedeutet Teilhabe und Ungleichheit, Einheit und Abstand. Wie großherzig die Liebe auch sein mag, so wird sie doch immer erkennen, dass sie nicht hoch genug gestiegen ist, und sie muss Gott bitten, dass Er vom höchsten Gipfel selbst herabsteige und sie zur Höhe emportrage.

Hier kommen wir zum Vergleich Thérèses vom kleinen Vogel und vom Adler. Vom Adler können wir die Augen und das Herz haben, den Scharfblick und den Wahnsinn der Liebe, aber nicht die Flügel (B 203-205): angesichts dieser Ohnmacht muss der Adler selbst herabfliegen und den kleinen Vogel tragen. Thérèse spricht auch von den Armen Jesu, die für uns der Fahrstuhl sind, der uns zum Gipfel bringt.

Selbst die heiligste Liebe genügt noch nicht, um Gott zu lieben, wie Er verdient, geliebt zu werden. Das ist genau die Erfahrung der Heiligkeit. Der Mensch muss auch seine wesenhafte Schwachheit annehmen und zu hoffen lernen, dass Gott seiner Ohnmacht abhilft, indem Er sich selbst schenkt.

Diese Hoffnung bedeutet kein Stehenbleiben, sondern Wachstum! Die Hoffnung, das ist die Liebe, die zu blühen beginnt. Nicht mehr zu hoffen, würde bedeuten, dass man sie erstickt. Der heilige Johannes vom Kreuz sagt, daß die Liebe um des Viel-Geliebten willen auf alles verzichten kann außer auf die Sehnsucht, zu wachsen und den Viel-Geliebten zu besitzen und immer mehr zu lieben.

Die von Liebe glühende Seele kann es wegen ihrer größeren Gleichförmigkeit mit dem Geliebten nicht unterlassen, den Sold und Lohn für die Liebe zu fordern; um dieses Lohnes willen dient sie ja dem Geliebten. Würde sie anders handeln, so besäße sie ja keine wahre Liebe; denn der Sold und Lohn der Liebe ist nichts anderes als ein höheres Maß an Liebe, und die Seele kann auch nichts anderes verlangen als dieses, bis sie zur vollkommenen Liebe gelangt. … Die Seele wartet nicht auf das Ende ihrer Mühe, sondern auf das Ende ihres Werkes; ihr Werk ist eben Lieben, und von dieser ihrer Liebe erwartet sie das Ende und den Abschluß, die Vollendung und Vollkommenheit in der Liebe zu Gott (Johannes vom Kreuz, Geistlicher Gesang, 9,7).

Die Hoffnung ist also kein Rückschritt von einer selbstlosen Schenkung zu einer Bitte um der eigenen Interessen willen. Ihr einziges Interesse ist es, selbstloser zu werden, um sich umso mehr verschenken zu können. Sie ist wie eine Pflanze, die aus der Erde der Liebe hervorsprießt und in sich die ganze Kraft dieser Erde der Liebe trägt. Von der Liebe, die sie hervorgebracht hat, ganz durchdrungen, ist sie der lebhafteste Ausdruck dieser Liebe, die sie zu einem möglichst hohen Grad emporbringen will. dass diese Erfahrung bei Thérèse ganz Liebe ist, wird auch in ihrer Terminologie klar: sie nennt den, von dem sie alles erhofft, Vater, und sie selbst handelt Ihm gegenüber wie ein Kind.

Oft verwendet Thérèse die Worte Hoffnung, Vertrauen und Hingabe, ohne zwischen ihnen einen großen Unterschied zu machen. Meistens spricht sie, wenn sie Hoffnung meint, von Vertrauen. Dieses Wort drückt eine größere Innigkeit aus und eine größere Gewißheit, erhört zu werden. Thérèse vertraut sich der Treue Gottes an, gründet sich auf Seine Liebe, verpfändet sich für die Menschenliebe (Tit 3,4) Gottes, wettet auf Seine Güte. Ihr Vertrauen ist bereits eine vorweggenommene Dankbarkeit und ein Lobgebet. Es beinhaltet auch die Aufmerksamkeit dem Nächsten gegenüber, den sie umso mehr lieben kann, je größer ihre Liebe wird. Das Vertrauen läßt Thérèse folgendermaßen beten: Ich erhoffe Dich von Dir selber, um Deinetwillen und um aller Menschen willen.

Ihr Vertrauen lebt sie nicht als eine absolute Sicherheit angesichts der Zukunft, mit all ihrem Leid und der Dunkelheit, das diese mit sich bringen kann. Gewiß vermittelt es ein stolzes Bewußtsein (Heb 3,6), das allerdings ständig bewahrt werden muss, da wir noch nicht die vollkommene Erhörung erhalten haben. Das Vertrauen darf sich von unseren Anfällen von Trägheit und Unschlüssigkeit nicht unterkriegen lassen, die uns die Hoffnung jedesmal als eine Utopie darstellen wollen. Denn oft genug besteht ja das Vertrauen gerade darin, gegen alle Hoffnung zu hoffen (Röm 4,18). Positiv gesehen ist es die Quelle für ein dynamisches Leben, das uns aus uns selbst herausgehen läßt, die Grenzen der Gegenwart sprengt und uns der Zukunft öffnet. Das Vertrauen verlangt die Loslösung vom in sich geschlossenen Heute und den Verzicht auf uns selbst. Durch das Vertrauen können wir der neue Mensch werden, der wir gerne sein wollen, der aber mit dem alten Menschen kämpft, der wir noch sind und den wir nicht gern aufgeben wollen. Man hat Thérèse oft die Heilige der Liebe genannt. Vielleicht wäre es korrekter zu sagen: die Heilige der Über-Liebe - wenn es diesen Ausdruck gäbe -, das heißt der Hoffnung, die über eine - sicher großartige, aber dennoch begrenzte und vorläufige - Schenkung hinaus nach einer noch größeren, unendlichen, endgültigen Gabe strebt: diese Liebe, die allein Gott ihr schenken kann. Ihre Liebe weigert sich, das zu bleiben, was sie ist, und verlangt nach Gott, dem noch nicht ihres Wesens. Sie ist sich dessen bewußt, dass sie immer auf dem Weg ist, und überlegt, wie sie mehr Liebe werden könnte.

Das Vertrauen von Thérèse ist eine Synthese des ganzen theologalen Lebens: es entspringt dem Glauben an die Güte Gottes, fließt durch das Flußbett der Hoffnung und mündet in die Liebe, der sie sich immer inniger verbinden will. Der heilige Ambrosius sagt, dass es zwischen der Liebe und der Hoffnung einensacer circuitus, einen heiligen Kreislauf, gibt. Die Liebe bringt die Hoffnung mit sich. Die Hoffnung läßt mehr lieben. Eine glühendere Liebe führt zu einer neuen Hoffnung. Eine neue Hoffnung ist zugleich Ausdruck der Liebe und die Bitte, von neuem von Gott her bereichert zu werden. So schreitet man sein ganzes Leben lang von der Liebe zur Hoffnung und von der Hoffnung zur Liebe, wobei man immer neue Gipfel erklimmt - bis zu dem Tag der Vereinigung mit Gott in der klaren Schau des Himmels, nach einem langen kleinen Weg.

Gott erhört uns schon in der Hoffnung selbst. Wenn ich die Augen zu Ihm erhebe, dann verstärkt sich in mir bereits das Bewußtsein Seiner wunderbaren Güte, und ich lerne, mich besser Seiner Ebene und Seinen Forderungen anzugleichen, deren Ziel es ist, mich besser zu machen. Sein Geist ist es, der am Werk ist, wenn Er mich ermuntert und mir Seine Kraft schenkt. Vielleicht wird es Jahre brauchen, bis man so nach und nach erkennt, dass sich etwas geändert hat …, dieser stille Frieden, der uns geschenkt wird, der beinahe unermüdliche gute Wille, immer wieder neu zu beginnen, diese Freude, die wir darüber empfinden, dass Gott unser Vater ist, die Gewißheit, dass unsere Sünden und Fehler, wenn wir sie bekennen, nur ein Tropfen Wasser sind, der in das Becken der göttlichen Liebe fällt. Trotz seiner Armut - und gerade deswegen - ist der, welcher das Vertrauen nicht verliert, mehr aus Gott. Und wenn nicht, dann wird er es zu Gottes Stunde sein… Es kann sein, dass Gott im Leben eines solchen Menschen ihm nach einer so langen Zeit der Hoffnung - wie bei Thérèse - kleine Weihnachtsgnaden gewährt.

Thérèse weiß allerdings, wie sehr sich das göttliche Leben unter der Oberfläche der Psyche und des Temperaments verbergen kann. Manche Menschen sind Gott viel näher, als ihre Unruhe und ihre Hemmungen es vermuten lassen.

Was in unseren Augen wie ein Versäumnis ausschaut, sagt Thérèse, ist in den Augen Gottes oft Heldentum (Heiligsprechungsprozess 1755).

Und Céline erzählt:

Am Letzten Tag werden Sie erstaunt sein, wenn Ihre Schwestern - befreit von allen Unvollkommenheiten - Ihnen als große Heilige erscheinen werden (MST 122).

Hier werden diese Kleinen nicht gelobt und können sich wegen keiner Sache rühmen, aber in den Augen Gottes sind sie groß, denn in all ihrer Armut sind sie voller Hoffnung.

Liebe oder Hoffnung: was hat das letzte Wort? Zufällig enden alle drei Manuskripte Thérèses mit dem Wort Liebe; zumindest können wir daraus schließen, dass Thérèse von dieser Idee beseelt war! Aber denkt sie daran im Sinn von Vollendung und von Verwirklichung? Oder von einem Ideal, also von der Hoffnung? Auf Erden kann das letzte Wort nur Hoffnung heißen. Denn die wahre Liebe führt von ihrem Wesen her dazu, dass wir uns nach mehr sehnen. Die Hoffnung, das ist die sehnsuchtsvolle Liebe. Sie ist die Liebe, die vom Dach ihres Hauses aus die flehenden Hände zum Himmel emporstreckt. Durch die Hoffnung geht die Liebe über sich selbst hinaus und wächst. In diesem Sinn nennt Thérèse ihren Weg einen Weg des liebenden Vertrauens (Brief 261): Vertrauen ist das Substantiv, das den Kern darstellt, Liebe das Adjektiv, das ihm die Farbe verleiht. Wenn man Thérèse fragt, worin jetzt genau ihr kleiner Weg besteht, so antwortet sie: Es ist der Weg des Vertrauens und der vollkommenen Hingabe (IGL 273).

In einem gewissen Sinn könnte man sagen, dass die Hoffnung nur das vorletzte Wort auf dieser Erde ist. Das letzte Wort wird uns von Jesus gesagt, wenn wir Ihm endgültig begegnen. Das allerletzte Wort auf Erden, die Antwort auf unsere Hoffnung, hat die Liebe, und sie ist auch das erste Wort, mit dem Gott uns im Himmel beschenken wird.

Die Brücke

Ein letztes Bild, das Thérèses Lehre erhellen kann, ist das von der Brücke.

Trotz all ihrer Liebe ist sich Thérèse dessen bewußt, daß sie noch nicht die Fülle der Liebe besitzt und dass sie sich vor einem Abgrund (C 271) befindet, den sie gerne ausfüllen möchte, um voll und ganz ihrem Viel-Geliebten entsprechen zu können.

Dieser Abgrund muss überwunden werden. Auf beiden Ufern stehen fest begründete Fundamente. Auf dem Ufer des Menschen, dieses begrenzten Wesens, ist der Pfeiler die Demut, die ihn seine Unvollkommenheit und Ohnmacht annehmen läßt. Auf dem Ufer des unendlichen Gottes ist der Pfeiler die Barmherzigkeit, an die der Mensch glaubt. Demut und Glaube an das göttliche Erbarmen sind die wesentlichen Bedingungen für die Hoffnung. Zwischen diese Pfeiler wird schließlich die Brücke des liebenden Vertrauens gespannt, die dem Menschen erlaubt, sich mit Gott zu verbinden. Oder genauer, Gott selbst ist es, der diese Brücke überquert, um dem Menschen zu begegnen, um ihn mit Seinen Gaben zu beschenken und ihn an das andere Ufer zu führen.

Könnte dieser Gott der Liebe nicht den Menschen erhören, der sich so sehnlich wünscht, mehr zu lieben? Thérèse erscheint dies möglich. Auf die Hoffnung läßt sich ja auch das anwenden, was sie bezüglich des Bittgebetes schreibt, das im Grunde die Sprache unserer Hoffnung ist.

Oh! das Gebet ist es, das Opfer, was meine ganze Stärke ausmacht, dies sind die unschlagbaren Waffen, die Jesus mir gegeben hat (C 253).

Wie groß ist doch die Macht des Gebetes! Man könnte es mit einer Königin vergleichen, die allzeit freien Zutritt beim König hat und alles erlangen kann, worum sie bittet (C 254).

Der Allmächtige gab den Heiligen als Stützpunkt: Gott selbst und Gott allein; als Hebel: das Gebet, das mit einem Liebesfeuer entflammt, und auf diese Art haben sie die Welt aus den Angeln gehoben (C 274).

Jesus selbst lehrt uns im Vater unser, unsere Hoffnung zum Ausdruck zu bringen, dieses Gebet kann also nicht wirkungslos sein. Thérèse unterstreicht, wie Jesus uns die Hoffnung als sinnvoll und begründet dargestellt hat: Er lehrt uns mit erhabenen Gleichnissen, dass es genügt zu klopfen, damit aufgetan wird, zu suchen, um zu finden, und demütig die Hand hinzustrecken, um das zu erhalten, worum man bittet… Er sagt ferner, Sein Vater gewähre alles, worum man Ihn in Seinem Namen bittet (C 273).

Thérèses Mitschwestern bezeugen, dass sie ihrer Hoffnung keine Grenzen setzte. Wie könnte Gott sich also an Großherzigkeit übertreffen lassen können?, schreibt sie (Brief 226).

Eure Sehnsüchte und eure Hoffnungen einzugrenzen, das hieße, die unendliche Güte Gottes nicht zu verstehen! Meine unendlichen Wünsche sind mein Reichtum, und für mich wird sich das Wort Jesu bewahrheiten: Dem, der hat, wird hinzugegeben werden, und er wird in Überfülle haben (Apostolischer Prozeß 46).

Oft wiederholte sie das Wort des heiligen Johannes vom Kreuz: Man bekommt von Gott soviel, wie man von Ihm erhofft!

Aber nichts zeigt uns so klar die verwandelnde Kraft des Vertrauens wie das Leben Thérèses selbst… Ihr Fahrstuhl funktioniert perfekt! Sie erfährt das Hereinbrechen der Erbarmenden Liebe in ihrem Leben! Ihre Treue wird sehr groß, und ihre geschwisterliche Liebe kennt keine Grenzen mehr.

In jeder nur möglichen Weise schärft sie ihren jungen Mitschwestern dieses Vertrauen ein. Sie spricht unter anderem von einem kleinen Kind, das nicht einmal auf die erste Stufe einer Treppe steigen kann, und sagt: Seien Sie damit einverstanden, dieses kleine Kind zu sein. Indem Sie alle Tugenden üben, heben Sie immer Ihren kleinen Fuß, um die Treppe der Heiligkeit zu besteigen. Es wird Ihnen aber nicht einmal gelingen, auf die erste Stufe zu steigen, doch der liebe Gott verlangt von Ihnen nur den guten Willen. Bald wird Er - von Ihren fruchtlosen Anstrengungen bewegt - zu Ihnen herunterkommen und Sie auf Seine Arme nehmen und Sie so für immer in Sein Reich emportragen (Apostolischer Prozess 1403).

Marie de la Trinité, die gern ein wenig mehr Energie hätte, antwortet sie: Und wenn der liebe Gott Sie schwach und unfähig haben möchte wie ein Kind. … glauben Sie, dass Sie dann weniger Verdienste hätten? … Willigen Sie ein, bei jedem Schritt zu straucheln, ja sogar zu fallen, Ihr Kreuz in aller Schwachheit zu tragen, lieben Sie Ihre Ohnmacht, Ihre Seele wird daraus mehr Nutzen ziehen, als wenn Sie mit Hilfe der Gnade heldenhafte Taten schwungvoll vollbrächten, die Ihre Seele nur mit persönlicher Befriedigung und mit Stolz erfüllen würden (Heiligsprechungsprozeß 2129).

Was sie selbst anbelangt, so hat sie folgenden Geistesblitz: Ich bin eine sehr kleine Seele, die dem lieben Gott nur sehr kleine Dinge anbieten kann, und dabei kommt es noch häufig vor, dass ich mir diese kleinen Opfer entgehen lasse, die der Seele so viel Frieden bringen; das entmutigt mich nicht, ich ertrage es, etwas weniger Frieden zu haben, und bemühe mich, ein andermal wachsamer zu sein (C 264).

Aber sie vergißt auch das Gleichnis von den Arbeitern der letzten Stunde nicht und gibt dazu folgenden Kommentar ab: Sehen Sie, wenn wir all unsere kleinen Anstrengungen machen, dann wollen wir alles von der Barmherzigkeit des lieben Gottes erhoffen und nicht von unseren jämmerlichen Werken, und wir werden ebenso wie die größten Heiligen belohnt werden (Apostolischer Prozeß 1043).

Werke oder Vertrauen?

Diese Frage kann in uns auftauchen: Hat Thérèse nicht zu sehr das Vertrauen auf Kosten der Werke betont? Geht sie nicht so weit, eine Mystik der Schwäche zu lehren?

Wir sehen uns vor dem ewigen Paradoxon eines Gottes, der vollkommene Treue verdient und der dennoch aus Liebe den Menschen, der seine Armut erkennt, in all seiner Unvollkommenheit angenommen hat. Auf dieses Paradoxon trifft man in der ganzen Frohen Botschaft von der Erlösung der Armen. Das gleichzeitige Bestehen unserer persönlichen Verantwortung und der alles übertreffenden und beglückenden Barmherzigkeit Gottes bleibt ein Geheimnis.

Selbst bei der Wortwahl ist dieses Paradoxon bei Thérèse gegenwärtig. Sie verwendet Ausdrücke wie: Die Liebe wird nur mit der Liebe bezahlt, oder auch, die Liebe beweist sich durch die Werke (B 204); andererseits sagt sie, dass Jesus unsere Werke nicht braucht, sondern nur unsere Liebe (B 193). Mein Weg ist kein Quietismus, sagt Thérèse, keine passive Hingabe (Apostolischer Prozeß 1358) - doch auf der anderen Seite möchte sie mit leeren Händen sterben und erkennt: Hätte ich getrachtet, Verdienste zu sammeln, dann wäre ich jetzt, zu dieser Stunde, verzweifelt (MST 69/70).

Die Liebe ist ein Sturzbach, der nichts auf seinem Wege stehen läßt(MST 74), aber wenn Gott ihre Werke der Liebe belohnen wird müssen, dann wird Er sehr verlegen sein, denn ich habe keine Werke… - also hoffen wir, dass Er mir nach Seinen Werken vergelten wird…. (IGL 43).

Thérèse huldigt nicht dem Aktivismus, duldet aber auch keine Lauheit. In der Zeit, als sie ihren Akt der Hingabe an die Erbarmende Liebe verfaßt, schreibt sie: Die Energie ist die notwendigste Tugend. Mit Energie kann man leicht den Gipfel der Vollkommenheit erreichen (Brief 178).

Zum Thema ihrer Weihnachtsgnade, die ihr als ein Geschenk des reinen Erbarmens erschien, fügt sie hinzu: Viele Seelen sagen: Aber ich habe nicht die Kraft, dieses Opfer zu bringen. Mögen sie doch tun, was ich getan habe - eine große Anstrengung machen! (IGL 156).

Sie unterstreicht das Wort Jesu, wonach man nicht in das Himmelreich kommen kann, wenn man Herr! Herr! sagt, sondern wenn man den Willen Gottes tut (C 231), aber sie beharrt auch gern auf der Hauptrolle, die dabei der gute Wille spielt (A 96).

Das Paradoxon ist zumindest teilweise gelöst, wenn wir Thérèses Wertskala näher analysieren. Der echte, der wesentliche Wert einer Handlung besteht in der Liebe und nicht in ihrer äußeren Wichtigkeit. Die Liebe verleiht allem Größe; ohne Liebe ist die größte Tat in den Augen Gottes nur klein.

Ich begriff, schreibt Thérèse, daß ohne die Liebe alle Werke ein Nichts sind, selbst die aufsehenerregendsten, wie die Auferweckung der Toten und die Bekehrung der Völker (A 179/180).

Nicht der Wert, nicht einmal die offensichtliche Heiligkeit einer Handlung zählen, sondern nur die Liebe, die darin liegt (MST 77/78).

An schöne, heilige Dinge denken, Bücher verfassen, Biographien von Heiligen schreiben, das wiegt keinen Akt der Gottesliebe auf, kein Antworten auf den störenden Ruf der Infirmerieglocke (MST 116).

Hinzu kommt, dass diese Liebe vor allem auf der positiven Ausrichtung und Gesinnung des Herzens beruht, im Willen, etwas Gutes zu tun, selbst wenn die Tat nicht zu ihrer vollen Entfaltung kommen kann. Die Aktivität der Liebe fällt nicht unbedingt mit der vollständigen Ausführung einer Handlung zusammen. Auch wenn die Tat nicht zur Vollendung gelangt, so kann an ihrem Ausgangspunkt doch viel Liebe vorhanden gewesen sein. Recht oft heißt die Tat der Liebe dann nur ehrliches Bemühen, Versuch, guter Wille, der unermüdlich immer wieder von neuem beginnt: Zeuge für die Unzulänglichkeit, aber auch wirklicher Träger der Liebe und der Appell an die Barmherzigkeit Gottes.

Wenn Thérèse die Werke relativiert, so hat sie für gewöhnlich alles vor Augen, was groß und bemerkenswert, glänzend ist, alles was in die Augen sticht, was sie so gern mit dem Ausdruck auffallend (éclatant) bezeichnet. Sie hütet sich vor jeder großartigen körperlichen Abtötung und weist jeden Wunsch nach außerordentlichen mystischen Phänomenen von sich. Das paßt nicht zu den kleinen Seelen, sagt sie, das ist für einen anderen als ihren kleinen Weg bestimmt. Sie zieht die Reinheit und die Uneigennützigkeit des Glaubens vor: Es ist so schön, in der Nacht der Prüfungen dem lieben Gott zu dienen. Wir haben doch nur dieses eine Dasein, um aus dem Glauben zu leben! … (MST 170).

Nun verstehen wir besser, warum Thérèse versucht, sich in ihrer Treue in der Liebe auf die zahlreichen, gewöhnlichen und alltäglichen kleinen Dinge zu konzentrieren, die im Leben eines jeden vorkommen, - ohne dass sie damit allerdings - und das ist ganz offensichtlich - den Weg des geringsten Widerstandes anpreisen will. Der Heroismus wird nicht abgeschafft, sondern in die gewohnte Situation jedes einzelnen übertragen. Der Sturzbach der Liebe wird hineingelenkt in das alltägliche Leben.

Als Thérèse im Manuskript B darlegt, wie sie alle Berufungen der Liebe verwirklichen will, erstellt sie eine Art Arbeitsplan: Ja, mein Viel-Geliebter, auf diese Weise wird sich mein Leben verzehren… Ich habe kein anderes Mittel, um Dir meine Liebe zu beweisen, als Blumen zu streuen, das heißt, ich will mir kein einziges kleines Opfer entgehen lassen, keinen Blick, kein Wort, will die geringfügigsten Handlungen benutzen und sie aus Liebe tun… Aus Liebe will ich leiden und aus Liebe sogar mich freuen, und so werde ich Blumen vor Deinen Thron streuen; nicht eine will ich antreffen, ohne sie für Dich zu entblättern… Blumen streuend werde ich singen (wie könnte man auch bei einer so fröhlichen Beschäftigung weinen?); singen werde ich, auch wenn ich meine Blumen mitten aus Dornen pflücken muss, und mein Gesang wird umso wohlklingender sein, je länger und spitzer die Dornen sind (B 203).

Alle kleinen Dinge also! Zarte Blütenblätter von keinerlei Wert (B 203)! Kleinigkeiten: ein kleines Opfer, ein Blick, ein Wort, ein Lächeln … Aber welcher Hauch absoluter Treue durchweht diese Seiten: alles nützen, sich keine Gelegenheit entgehen lassen … Kein Leistungsstreben, allein die Liebe belebt ihre Radikalität: für Dich, aus Liebe (dreimal!). Deshalb ist dies ein Programm voller Freude, eine Freude, die selbst im Leiden nicht vergeht! Aber es ist nur ein Programm, eine Richtung und eine Aufgabe, und Thérèse gesteht, dass sie nur ein schwacher kleiner Vogel ist, ein unvollkommenes kleines Geschöpf, das sich von Zeit zu Zeit von seiner einzigen Beschäftigung ablenken läßt und um seine kleinen Missetaten und Treulosigkeiten (B 205/206) weiß. Ein Geschöpf aber, das immer wieder zurückkommt: mit diesem wunderbaren guten Willen! Im Vertrauen auf die wunderbare Barmherzigkeit Gottes!

Wie sehr hätte Thérèse folgendes Gleichnis von Rabindranath Tagore geliebt, das so gut den Reichtum der Liebe zeigt, der sich in einer ganz kleinen, unauffälligen Geste offenbaren kann.

Ich ging bettelnd von Tür zu Tür auf der Dorfstraße, als wie ein ferner Traum Deine goldene Kutsche auftauchte, und ganz erstaunt fragte ich mich, wer der König der Könige sein könnte.

Meine Erwartung steigerte sich, ich dachte, dass meine schweren Tage nun ein Ende hätten, und mit den Augen suchte ich einen Blick auf die Geschenke werfen zu können, die, ohne dass man um sie gebeten hatte, gegeben und die Reichtümer, die rings umher in den Staub gestreut würden.

Die Kutsche blieb bei mir stehen. Dein Blick ist auf mich gefallen, und Du bist mit einem Lächeln herabgestiegen. Das Glück meines Lebens war nun endlich gekommen.

Da hast Du plötzlich die rechte Hand gehoben und hast gesagt: Was hast du mir zu geben?

Ach, das war ein Scherz des Königs, wie Du Deine hilfreiche Rechte einem Bettler geöffnet hingehalten hast. Verwirrt und unschlüssig nahm ich langsam ein kleines, ein ganz kleines Weizenkorn aus meinem Beutel und gab es Dir.

Aber wie groß war meine Überraschung, als ich am Ende des Tages meinen Beutel auf den Boden leerte und unter all dem armseligen Zeug ein kleines, ein ganz kleines Weizenkorn aus Gold fand. Ich weinte bitter, und ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, Dir alles zu geben, was ich hatte (Rabindranath Tagore, Chants sacrés, L'Offrande lyrique).

Werke oder Vertrauen? Thérèse bietet uns hier ein sehr schönes Gleichgewicht an. Wir lieben soviel, wie wir können, wir versuchen, es durch unsere Werke zu zeigen, aber da uns dies in unserem Unvermögen nicht so gelingt, wie wir möchten, vertrauen wir uns dem unendlich Barmherzigen an. Innerhalb des Bereiches, den unsere Liebe - Geschenk Gottes an unsere verantwortliche Freiheit - tatsächlich zu erreichen fähig ist, muss sie sich bemühen, diese in Taten umzusetzen. Wenn diese Gabe in uns wächst, muss sie erneut ihre Echtheit durch eine entsprechende Treue im Umfeld des konkreten Lebens zeigen. Ohne diese Treue zu dem, was der viel-geliebte Herr von uns fordert, wird das Vertrauen in seiner Spontaneität eingebremst.

Bei allem, was Thérèse bezüglich der Werke schreibt, ist sie sorgfältig darauf bedacht, alle Ehre der Barmherzigkeit Gottes zu erweisen. Aus diesem Grund relativiert sie ihren eigenen Beitrag. Einer ihrer Novizinnen erklärt Thérèse, dass ihr kleiner Weg nichts anderes ist, als das Alles und das Nichts des heiligen Johannes vom Kreuz: Auf dem Weg des Nichts kommt man zum Alles. Hinaufklettern? Gott will, dass Sie hinuntersteigen! Etwas erreichen? Sagen Sie eher, verlieren! (MST 38). Sie hoffen ständig, etwas zu erreichen. Sie sind erstaunt, dass Sie fallen. Man muss immer darauf gefaßt sein, zu fallen (MST 43).

Man muss einwilligen, immer arm und kraftlos zu bleiben, und das ist schwer… (Brief 197).

Denn der Arme im Geist, wie Thérèse ihn sieht, befaßt sich nicht ängstlich mit dem Ergebnis seiner geistlichen Mühen. Er zählt nicht auf seinen Erfolg. Er will nicht alles sehen und alles verstehen. Er lebt aus dem Glauben und aus dem Vertrauen. Seine Liebe besteht darin, sich ganz auf Gott zu verlassen. Er fragt sich nicht voll Ungeduld, ob er bereits viele Fortschritte gemacht hat.

Thérèse will sogar auf all ihre Verdienste verzichten. Man könnte sagen, dass sie darin eine Gefahr sieht, selbstgenügsam zu werden, einen Titel zu erlangen, der einem gestattet, sich vor Gott zu rühmen. Alles, was den moralischen Anschein hat, nach Belohnung und Berechnung zu riechen, ist ihr völlig fremd geworden. Sie will ihre vollkommene Abhängigkeit von der reinen Barmherzigkeit Gottes durch nichts geschmälert sehen; und das ist es schließlich, was ihr das größte Verdienst einbringt! Sie lebt von der Hand Gottes und ist in ihrer Ganzhingabe offen für alles, was Er von ihr verlangt, und alles, was Er ihr schenken will, und sei es durch das Leiden hindurch. Ihre Hingabe ist ein vom Vertrauen getragener Akt: ein Zustand des sich Gebens in die Hände des Viel-Geliebten, auf den sie hofft und von dem sie die erbarmende Hilfe erwartet.

Letztendlich wird das, was bei Thérèse paradox ist, nicht aus der Welt geschafft. Dieses Paradoxon ist der Liebe Gottes und Thérèses eigen, da beide versuchen, dem anderen in allem den Vorrang zu lassen. Es gibt zwei Pole: sich bemühen zu handeln, als ob alles von dir abhinge (und du vermagst viel); und vor Gott eine Haltung einnehmen, als ob alles von Ihm abhinge (und schließlich kommt ja auch alles von Ihm). Thérèses Lehre ist eine Harmonie, die keinen der beiden Pole vernachlässigt, sondern sie in einer höheren Synthese miteinander vereint. Sein Bestes tun und Gott das übrige machen lassen … Gott tut Sein Bestes, mach du das übrige ….

Man muss alles tun, was man vermag, geben ohne zu zählen, sich ständig abtöten, mit einem Wort, durch alle guten Werke, deren man fähig ist, seine Liebe beweisen. Doch da in Wahrheit all dies nur geringfügig ist … ist es notwendig, dass wir - nachdem wir alles getan haben, was wir glaubten, tun zu müssen - bekennen, daß wir unnütze Knechte (Lk 17,10) sind, und dass wir dennoch hoffen, der liebe Gott werde uns aus Gnade schenken, was wir ersehnen (MST 62).

Thérèse will in keiner Weise mehr reich sein!

Auch wenn ich alle Werke des heiligen Paulus vollbracht hätte, würde ich mich immer noch als unnützer Knecht fühlen, aber gerade das macht meine Freude aus, denn wenn ich nichts habe, werde ich alles vom lieben Gott empfangen (IGL 71).

In dieser Spannung zwischen Aktivität und Hingabe neigt ihr Herz eindeutig zur Hingabe, darin liegt ihr Charisma und das Geheimnis der Ermutigung, die von ihrer Person ausgeht! Der allerletzte Satz ihrer Autobiographie - zufällig der letzte Satz, denn Thérèse konnte in ihrer Krankheit nicht mehr weiterschreiben - zeigt, wie ihr Vertrauen sich nicht mehr auf ihre eigene Tugend stützt, sondern auf die Güte Gottes: Nicht deshalb, weil Gott in Seiner zuvorkommenden Barmherzigkeit meine Seele vor der Todsünde bewahrt hat, erhebe ich mich zu Ihm im Vertrauen und in der Liebe (C 275).

Mit Nachdruck bittet Thérèse ihre Schwester Agnès, folgenden Gedanken hinzuzufügen: Machen Sie es klar, dass mein Vertrauen genauso groß wäre, wenn ich auch alle nur möglichen Verbrechen begangen hätte. Ich fühle es, diese Masse von Sünden wäre wie ein Wassertropfen, den man auf glühende Kohlen fallen läßt (IGL 95).

Man hat Thérèse eine Definition von Heiligkeit zugeschrieben, die sehr bekannt ist. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat Agnès sie in den Mund der jungen Heiligen gelegt, aber sie ist dennoch von ihrem Gehalt her ganz theresianisch: Die Heiligkeit liegt nicht in dieser oder jener Übung, sie besteht in einer Verfassung des Herzens, die uns demütig und klein in den Armen Gottes macht, im Bewußtsein unserer Schwachheiten und mit einem kühnen Vertrauen in Seine Vatergüte (Letzte Worte).

Der Weg Thérèses hat eine bemerkenswerte Entwicklung erfahren. Um es mit einem Bild zu sagen: zunächst versuchte ihre Hand, etwas zu ergreifen, an sich zu nehmen, es mit den Fingern umklammert zu halten, mit der Handfläche nach unten. Nach und nach vollzog sich die Umkehr. Die Finger entspannen sich und lassen los, die Hand dreht sich, bis die Handfläche nach oben weist, bereit hinzugeben und - umgekehrt - auch viel zu empfangen. Dafür brauchte es fast ein ganzes Leben. Es geschah nicht im Handumdrehen!

Im Herzen des Christentums

Die junge Karmelitin hat in ihren Schriften sehr tiefe theologische Einsichten über die Beziehung zwischen Gott und dem Menschen zum Ausdruck gebracht. Sie hat sie nicht beim Studium gewonnen, sondern sie ganz persönlich entdeckt, während ihres langen inneren Wachstums, im Licht des Geistes Gottes, dem sie sich mit einem außerordentlich feinen Gespür hingegeben hat.

Beinahe unbewußt hat sie, weil sie aus einer klaren Erkenntnis heraus und als in die Gemeinschaft der Kirche Berufene lebte, das Herz der christlichen Botschaft und das zentrale Problem der Theologie des hl. Paulus getroffen.

In seinen Briefen an die Galater und an die Römer zeigt Paulus, wie die PharisäerDie Pharisäer (hebr. für „die Abgesonderten”) waren eine theologische Ausrichtung im Judentum zur Zeit des zweiten jüdischen Tempels (ca. 530 v. Chr. bis 70 n. Chr.) und wurden danach als rabbinisches Judentum die einzige bedeutende überlebende jüdische Strömung. Im Neuen Testament werden die Vertreter der Pharisäer in polemischer Weise als Heuchler kritisiert und herabgewürdigt. Die Pharisäer hielten nicht nur die niedergeschriebenen Gesetze Mose' für verbindlich, sondern befolgten auch die mündlich überlieferten Vorschriften der Vorfahren. Sie glaubten an eine Auferstehung der Toten und einen freien Willen des Menschen., die eine wichtige Gruppe im Judentum darstellten, unfähig sind, sich durch das Gesetz Mose zu heiligen. Das Gesetz bietet ihnen ein so forderndes und so kompliziertes ethisches Programm an, dass es ihnen unmöglich ist, es mit ihren eigenen Kräften zu verwirklichen. Dies ist das Drama des Pharisäers: er findet sich einer hohen Aufgabe gegenüber, hat aber nicht die innere Kraft, sie zu erfüllen. Das Gesetz überläßt ihn einfach seinen eigenen Kräften, um sich selbst in der Treue vor dem Allheiligen Gott zu verwirklichen. In seiner Eigenschaft als Gesetz führt es ihn zu einer legalistischen Haltung, die durch die Leistung des Willens und eine mustergültige Treue gezwungen ist, sich selbst einen Heiligenschein der Gerechtigkeit zu verpassen, was allerdings nur eine Selbstrechtfertigung und Selbstverherrlichung ist.

Dies ist - und Paulus unterstreicht es mit polemischer Vehemenz - der religiösen Haltung des Christen, der eingeladen ist, seine Erlösung und seine Treue von einem Anderen zu erwarten, von Grund auf entgegengesetzt. Der PharisäerDie Pharisäer (hebr. für „die Abgesonderten”) waren eine theologische Ausrichtung im Judentum zur Zeit des zweiten jüdischen Tempels (ca. 530 v. Chr. bis 70 n. Chr.) und wurden danach als rabbinisches Judentum die einzige bedeutende überlebende jüdische Strömung. Im Neuen Testament werden die Vertreter der Pharisäer in polemischer Weise als Heuchler kritisiert und herabgewürdigt. Die Pharisäer hielten nicht nur die niedergeschriebenen Gesetze Mose' für verbindlich, sondern befolgten auch die mündlich überlieferten Vorschriften der Vorfahren. Sie glaubten an eine Auferstehung der Toten und einen freien Willen des Menschen. baut im Gegensatz dazu auf sich selbst, er muss sich selbst genügen, um heilig zu werden. Die Heiligkeit ist sein eigenes Werk. Er will sie durch seine eigenen Taten erlangen. Was ihn charakterisiert, ist die Suche nach Werken, in welchen man sich selbst genügt, was aber dem Christentum nicht entsprechen kann, da die christliche Liebe nur eine Antwort sein kann, eine Reaktion auf eine Tat, die Gott als Erster gesetzt hat und die durch die Gnade das menschliche Tun durchdringt. Tatsächlich machen das Geschenk Christi und das Geschenk Seines Geistes klar, wie sehr unsere Liebe vor allem in der liebenden Annahme und der gläubigen Hingabe besteht. In Christus hat sich, was unsere Beziehung zu Gott anbelangt, eine radikale Revolution vollzogen. Von nun an arbeitet Gott durch die menschliche Mittlerschaft Christi - des Weges, der Wahrheit und des Lebens - und des Heiligen Geistes, der uns in Überfülle geschenkt wird, wenn wir uns Ihm öffnen.

Paulus hat ganz tief begriffen und ganz fest angenommen, dass Christus gekommen ist, um das Gesetz als ein geschlossenes System der Selbstheiligung zu entlarven, und dass Er das Gesetz durch die Überfülle der Gnade vollendet hat, als Er die Ohnmacht des Gesetzes ans Kreuz genagelt hat, wie der heilige Paulus sagt. Zur radikalen Rückkehr zur Liebe als dem ersten und größten Gebot (was bei einem Gutteil des Volkes Israel in Vergessenheit geraten war) schenkt uns Jesus vor allem Seinen eigenen Geist in Überfülle, der uns die innere Fähigkeit verleiht, das neue Gesetz zu leben. Der Lebenshauch, durch den der Geist uns Seinen Antrieb gibt, heißt Gnade.

Die Gnade ist es, die uns heilig macht - und nicht mehr wir selbst, die das Gesetz mit unseren eigenen Kräften beachten müssen. Der Geist durchdringt unser Leben mit der Liebe, weil Er in unsere Herzen ausgegossen worden ist. Er drängt uns, uns dem Abba-Vater in Liebe zu nähern. Die Liebe Christi folgt uns nach - so lehrt es uns der heilige Paulus -, sie ist unendlich treu, und nichts kann uns von ihr trennen. Durch die Taufe erhalten wir Anteil an dieser erlösenden Gnade des Geistes Christi.

Die Gnade ist eine Initiative, die Gott setzt, und sie ist das Verdienst des Todes und der Auferstehung Jesu: durch die pistis, den Glauben, öffnen wir uns ihr. Christus, die Gnade, der Glaube: dies ist die neue Achse, um die sich unsere christliche Heiligkeit dreht. Wir erlösen uns nicht selbst, Christus erlöst uns. Der Mensch ist schwach, aber in ihm offenbart sich die Gnade Gottes. In dieser Macht der Heiligkeit Christi kann der Mensch sich sogar seiner Schwachheit rühmen. In Gott ist er stark in dem Moment, wo er seine Schwachheit erkennt. Denn dann befindet er sich in einer sehr günstigen Verfassung, um sich von sich selbst abzuwenden und für Gott zu öffnen.

In gewissem Sinn musste Thérèse sich ebenfalls mühsam ihren Weg durch dieses paulinische Problem hindurch bahnen. Ganz wie Paulus mußte sie durch den Mißerfolg zum Sieg kommen, durch das Scheitern der Selbstheiligung. Das erste Zusammentreffen von Paulus mit dem auferstandenen Christus machte auf sie einen unauslöschlichen Eindruck. Als Paulus, der im Judentum die meisten seines Alters und seines Volkes an übergroßem Eifer für die Überlieferungen seiner Väter übertraf (Gal 1,14), auf dem Weg nach Damaskus aus dem Sattel geworfen wird und zu Boden fällt, ist dies der Schock seines Lebens; noch mehr wird er aber im übertragenen Sinn des Wortes aus dem Sattel geworfen. Als er im Straßenstaub liegt, ist er sich dessen bewußt, dass er auch in moralischer Hinsicht auf der Erde liegt: Weder ich noch das Gesetz hatten recht, sondern dieser Jesus, den ich verfolge … Es ist zugleich eine Nacht und doch auch ein Licht, ein Fiasko und eine Offenbarung, eine Krise und auch schon die Aussicht auf die Erlösung. Sein Fall ist der Anfang für eine fortschreitende Umkehr, in seinen Gedanken und seinen Empfindungen.

Auch Thérèse hat eine so tiefgreifende Wende erlebt. Eine erste Bekehrung ließ sie von einer idealen Heiligkeit träumen: Die Liebe ohne jede andere Grenze als Dich… Aber ihr Perfektionismus wird nach und nach zu einer Frage, die sie quält. Denn ständig vertiefen sich in ihr die Erfahrung ihrer Unzulänglichkeit und die Erkenntnis eines Gottes, der alles übersteigt. Das Ideal überholt sie immer mehr. Sie befindet sich unerbittlich vor einem Dilemma, dessen Lösung in beiden Fällen nur in der Kapitulation liegt. Entweder sagt sie sich: Mein Traum von der unendlichen Liebe war eine Jugendillusion, die sich angesichts der Realität verflüchtigt; ich verzichte also auf mein Ideal, gebe mich mit weniger zufrieden, mäßige meine Wünsche… Oder sie sagt sich: Ich gebe mich Gott noch mehr hin, ich wage den Sprung blinden Vertrauens in Seine Stärke, die in mir wirken wird …

Daß Thérèse sich für die zweite Möglichkeit entschieden hat, ist ein gutes Zeichen dafür, dass der Heilige Geist sie lenkt. Ihre zweite Bekehrung - die tiefere - führt sie von ihrer persönlichen Aktivität zu einem vollkommenen und beständigen Vertrauen auf Gott. In völlig richtiger Einschätzung der Lage legt sie das Werk ihrer Heiligung in die Hände von Jesus, dem Verwalter des Heiles, der selbst ihre Bemühungen vollenden und sie in der Bank Seiner barmherzigen Liebe anlegen wird. Jesus kommt mit vollen Händen zu Thérèse, die leere Hände hat. Es hat Jahre gebraucht, bis Thérèse klar gesehen hat - nicht theoretisch, sondern in der Praxis -, dass man den Viel-Geliebten nicht erobern kann, sondern daß Er selbst sich schenken will. Er ist der Erlöser und der Retter, Er ist keine Festung, die man einnehmen muss, und auch kein Lohn, den es zu gewinnen gilt.

Vielleicht muss man zuerst verzweifelt sein, um die Hoffnung zu entdecken. Die wahre Hoffnung liegt jenseits des Traumes. Dann kann sich das Herz auf eine neue Weise öffnen - in einer großen, aktiven und beständigen Erwartung des Herrn des Lebens und der Heiligkeit.

Die Heiligkeit ist viel eher die Frucht der Empfänglichkeit und der Hingabe als des Strebens und des Eifers. Oder genauer: der Eifer und die Anstrengung sind eine unverzichtbare Bedingung, aber nicht mehr. Das Wesentliche ist Geschenk. In der christlichen Tradition heißt es Gnade (Han Fortmann, Oosterse Renaissance).

Hier trifft Thérèse auf das Herz des Evangeliums. Ihre geistige Kindschaft (anzumerken ist, dass sie selbst diesen Ausdruck nie gebraucht hat) besteht darin, in aller Freiheit und von Grund auf in einem Geist der Kindschaft zu leben, der uns rufen läßt: Abba, Vater (Röm 8,15). Ihre Hingabe an die Barmherzigkeit beruht darauf, der Logik der Liebe Gottes, die in Jesus Christus offenbar geworden ist und von der nichts uns scheiden kann (Röm 8,39), voll und ganz jedes Recht einzuräumen. Ihr Vertrauen ist die Seele der pistis (Glaube) des Paulus: die liebende Hingabe an die erlösende Gnade Gottes.

Thérèse liebte auch den Römerbrief sehr, sie zitiert ihn etwa zehn Mal. In ihrem Brevier fand sich folgende Stelle, die eine Anlehnung an Röm 4,4-6 und 3,24 ist: Selig jene, die Gott ohne Werke für gerecht erachtet, denn für jene, die Werke tun, ist der Lohn nicht so sehr Gnade als eine geschuldete Sache … Jene also, die keine Werke tun, sind aus freien Stücken durch die Gnade, die ihnen durch die Erlöserkraft Christi zuteil wurde, gerechtfertigt. Nun weiß sie es, voller Freude: Jesus selbst will unser Retter sein, Er macht sich daraus eine Ehre!

Mehr als einmal ist die ökumenische Bedeutung der Lehre Thérèses hervorgehoben worden. Dieses bis in die Fingerspitzen katholische Mädchen, das sich in vollem Gehorsam der Autorität der Kirche beugte und durch seinen Stil und seine Gewohnheiten ganz im katholischen Leben seiner Zeit aufging, ist in bezug auf die Grundlage und die Gestaltung ihres Lebens dem, was der Protestantismus als für das Erbe der christlichen Lehre über die Erlösung als gültig erachtet, viel näher, als manche es anzunehmen wagen.

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zuletzt aktualisiert am 12.09.2016
korrekt zitieren:
Mit leeren Händen - Die Botschaft der Thérèse von Lisieux:
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