Wilgefortis
auch: Kümmernis
weitere Namen: Hilgefortis, Kummernus, Ontcommer, Hülpe, Liberata, Eutropia, Caritas
französischer Name: Affligée
spanischer Name: Librada
Gedenktag katholisch: 20. Juli
nicht gebotener Gedenktag im Bistum Siguenza-Guadalajara
Name bedeutet: W: von starkem Willen (althochdt. - latein.)
Wilgefortis ist eine legendäre Volksheilige, deren Wurzeln in der Frühzeit der Christianisierung Deutschlands liegen. Nach der erstmals im 15. Jahrhundert in den Niederlanden bezeugten Legende war sie die Tochter eines heidnischen Königs von Portugal, die Christin wurde und - um der Vermählung mit einem heidnischen Prinzen zu entgehen - Gott bat, ihr Aussehen zu entstellen. Als ihr daraufhin ein Bart wuchs, ließ der erzürnte Vater die Widerspenstige mit Lumpen bekleidet ans Kreuz schlagen, damit sie ihrem himmlischen Bräutigam gleiche. Die Sterbende predigte drei Tage lang vom Kreuz herab und bekehrte viele Menschen, darunter auch ihren Vater. Er ließ sie nun in kostbare Stoffe hüllen und errichtete nach ihrem Tod eine Kirche zur Buße.
Kümmernis starb für ihren Glauben am Kreuz , nachdem sie einem heidnischen König zur Frau versprochen wurde und Christus ihr einen Bart wachsen ließ in Erhörung ihres Flehens,
dass sie keinem auf Erden gefalle, sondern ihm allein und dass er sie mache wie sie ihm am besten gefalle. Da verwandelte er sie und machte sie ihm gleich.
Hans Burgkmair, Holzschnitt, 1507, abgedruckt bei: Regine Schweizer-Vüllers, Heilige am Kreuz, S.17f
Mit der Legende der Wilgefortis verbunden ist die Sage von dem armen Spielmann, dem sie - in einer späteren Fassung als Braut des Königs Oswald von Northumbrien - ihren goldenen Schuh zuwarf, als er vor ihrem Bild spielte. Er wurde wegen Diebstahls zum Tode verurteilt, durfte vor der Hinrichtung aber noch einmal vor der Heiligenfigur spielen. Zum Beweis seiner Unschuld löste sich nun auch der zweite silberne Schuh von ihrem Fuß und rollte bis zu den Füßen des Geigers.
Es war einmal eine fromme Jungfrau, die gelobte Gott, nicht zu heirathen, und war wunderschön, so daß es ihr Vater nicht zugeben und sie gern zur Ehe zwingen wollte. In dieser Noth flehte sie Gott an, daß er ihr einen Bart wachsen lassen sollte, welches alsogleich geschah; aber der König ergrimmte und ließ sie an's Kreutz schlagen, da ward sie eine Heilige.
Nun geschah es, daß ein gar armer Spielmann in die Kirche kam, wo ihr Bildniß stand, kniete davor nieder, da freute es die Heilige, daß dieser zuerst ihre Unschuld anerkannte, und das Bild, das mit güldnen Pantoffeln angethan war, ließ einen davon los- und herunterfallen, damit er dem Pilgrim zu gut käme. Der neigte sich dankbar und nahm die Gabe.
Bald aber wurde der Goldschuh in der Kirchen vermißt, und geschah allenthalben Frage, bis er zuletzt bei dem armen Geigerlein gefunden, auch es als ein böser Dieb verdammt und ausgeführt wurde, um zu hangen. Unterwegs aber ging der Zug an dem Gotteshaus vorbei, wo die Bildsäule stand, begehrte der Spielmann hineingehen zu dürfen, daß er zu guter Letzt Abschied nähme mit seinem Geiglein und seiner Gutthäterin die Noth seines Herzens klagen könnte. Dies wurde ihm nun erlaubt. Kaum aber hat er den ersten Strich gethan, siehe, so ließ das Bild auch den andern güldnen Pantoffel herabfallen, und zeigte damit, daß er des Diebstahls unschuldig wäre. Also wurde der Geiger der Eisen und Bande ledig, zog vergnügt seiner Straßen, die heil. Jungfrau aber hieß Kummerniß.
Kinder- und Haus-Märchen Band 2, Große Ausgabe. S. 293f
Die Legende beruht auf einer Missdeutung bekleideter Kruzifixbilder vom Typus des Volto Santo in
Lucca. Pilger aus
Friesland hielten das für die Darstellung
einer Frau und bildeten dann eine Legende dazu: das sei die Tochter eines heidnischen Königs, die Christin geworden sei und
deshalb ans Kreuz geschlagen wurde; zu dieser vagabundierenden
Legende gesellten sich verschiedene andere Legenden.
Die volkstümliche Verehrung nennt sie Kümmernis
, der Kult breitete sich - von den Niederlanden ausgehend - v. a. seit
dem 15. Jahrhundert - im deutschsprachigen Raum, besonders in Bayern und
Tirol, aus. Rund 1000 schriftliche und
ikonografische Zeugnisse aus der Zeit von 1350 bis 1848 zeigen ihre Beliebtheit. Redensartlich werden entsprechende
Vergleiche gezogen: Aussehen wie die heilige Kümmernis
oder sein wie die heilige Kümmernis
- sich um
alles kümmern, überall eingreifen, sich fremde Sorgen zu den eigenen machen.
Wilgefortis wurde 1584/86 - als erste Frauenheilige
überhaupt, d. h. speziell von Frauen angerufene Heilige, - ins
Martyrologium Romanum aufgenommen, bei der
Kalenderreform Nach Abschluss und im Auftrag des => 2. Vatikanischen Konzils wurde im Jahr 1969 eine Liturgiereform in der römisch-katholischen Kirche durchgeführt; in diesem Rahmen wurden auch Änderungen im Römischen Generalkalender vorgenommen; der erneuerte wurde mit dem 1. Januar 1970 in Kraft gesetzt.
aber wieder als unhistorisch gelöscht. Die Anrufung der heiligen Kümmernis war oft ein Notschrei von Frauen mit Gewalt-
oder Inzesterfahrungen; nach einer Variante der Legende begehrte ihr Vater die Tochter in unnatürlicher Liebe
. Der
Kult erreichte in der Barockzeit seine Blüte und ist im 20. Jahrhundert in Mitteleuropa erloschen, in Südeuropa und
Südamerika aber noch präsent als Sainte Affligée
, Heilige Kümmernis
.
In Bamberg wird Wilgefortis in einer eigenen Kapelle der
Kirche St. Gangolf dargestellt, dort wird die
aus dem Jahr 1356 stammende, in der heutigen Form 1525 entstandene Skulptur aber Göttliche Hilfe
genannt.
Attribute:
als bärtige Frau, Dornenkrone, mit Geiger
Patron
gegen Augenleiden, Gebärmutterkrankheiten, Unfruchtbarkeit; gegen Haarausfall
Stadlers Vollständiges Heiligenlexikon
Web 3.0 - Leserkommentare:
Leider beruht der Artikel hauptsächlich auf den Feststellungen
von Gustav Schnürer (Gustav Schnürer / Joseph M. Ritz: Sankt Kümmernis und Volto
Santo. Forschungen zur Volkskunde 13/15. Düsseldorf 1934), die seitdem zur
herrschenden Meinung erstarrten. Der Kult wurde in
Flandern
nicht aus Volto-Santo-Bildern (so aber nach Schnürers Missverständnisthese) abgeleitet,
sondern hat eigene Wurzeln (Regine Schweizer-Vüllers: Die Heilige am Kreuz. Studien
zum weiblichen Gottesbild im späten Mittelalter und in der Barockzeit. Bern/Berlin
u. a. 1997, S. 108, 118). Ebenso ist Schnürers Gleichordnung der drei Manifestationen
der gekreuzigten Frau und ihre Zusammenfassung unter dem Oberbegriff Kümmernis
unzutreffend. Vielmehr lassen sich drei historische Ausformungen des Kultes der gekreuzigten
Frau feststellen, die in einer zeitlichen Abfolge in Flandern vom Wilgefortiskult ausgehen
und für die jeweils eigene, charakteristische Ikonographien entwickelt wurden:
• St. Wilgefortis (um 1360),
• St. Ontkommer (um 1400) und
• hl. Kümmernis (ab 1470).
Den Bildern der Wilgefortis wie auch der Sint Ontkommer fehlen alle Merkmale
des Volto Santo, des heiligen Kreuzes von
Lucca.
Sie zeigen deutlich eine Frau in Frauenkleidern am Kreuz umgeben von den Personen
der Legende. In der Legende hat der Spielmann keinen Platz. Die Übernahme von
Volto-Santo-Darstellungen für die Bilder der späteren Kümmernis geschah in Süddeutschland
um 1470 erst nach dem Import des Ontkommerkultes vom Mittelrhein dorthin (nicht vor 1456).
Sie begründete nicht den Kult, sondern war ein rein ikonographischer Akt. Nur die
süddeutsche Kümmernis wurde in Volto-Santo-Art dargestellt. Die einheimischen Vorlagen
für Volto-Santo-Wandbilder enthielten bereits den Spielmann, eigentlich das Schuhwunder
(vom rechten Fuß des Korpus gleitet dem Spielmann der Schuh entgegen). Spielmann/Schuhwunder
hatten die Funktion einer Garantie für die wahre Wiedergabe des hl. Kreuzes von Lucca
gegenüber allen anderen Kruzifixen in der Tunika. Mit der Verwendung dieser Vorlagen wurde
Ontkommer/Kümmernis mit dem Spielmann zusammengebracht in Bild und Legende. Erst die
bildliche Verbindung führte zur neuen, zur Kümmernislegende, mit der Komposition der
Heiligen und dem Spielmann. (Arndt Müller: Bilder des Volto Santo und der hl.
Kümmernis im Ries und in seiner Umgebung. In: Rieser Kulturtage. Dokumentation Band XVI/2006.
Nördlingen 2007, S. 309 – 354).
Der neue Kult wurde wie in Flandern / Südniederlanden auch in Süddeutschland in
den Klöstern, hauptsächlich der Benediktiner/innen
zur Unterstützung der Keuschheitsregel eingesetzt und wie für Wilgefortis/Ontkommer
mit Altar und Liturgie ausgeführt. Bis 1500 kam er unter das Volk und wurde nach 1500
populär, siehe den bekannten Holzschnitt von Hans Burgkmair von 1507 mit der Kombination
von Volto-Santo-Bild und dem neuen Legendentext. Nach Unterbrechung bzw. Beseitigung
des Kultes durch die Reformation kam die Verehrung der Kümmernis zu neuer Blüte als
Heilige der Gegenreformation mit weiter Verbreitung in Süddeutschland, Österreich,
Tirol,
Schweiz, Böhmen
und in den Habsburgischen Ländern des heutigen Südpolens. Hierbei wurde sehr oft für
die Kümmernis der offizielle Name Wilgefortis gebraucht, wie er seinerzeit im
Martyrologium Romanum 1584 und in den Acta Sanctorum
1721 festgelegt worden war. Die östlichste bildliche Darstellung stammt aus der Westukraine
(Berestetschko,
1743). In ihrer Ikonographie wurde nicht mehr das Volto-Santo-Vorbild verwendet,
sondern das Formengut des jeweiligen Zeitstils mit zunehmender Betonung der Weiblichkeit.
Ihre Hauptzuständigkeit war der Trost in psychischem Leid, Trübsal usw. Erst Aufklärung
und vollends die kapitalistische Umwälzung der Lebensverhältnisse ab dem 19. Jahrhundert
ließen den Kult vergehen. Daneben dauerte die Verehrung der Wilgefortis/Ontkommer in
Flandern und den Südniederlanden bis heute an. (Peter Jan Margny/Charles Casper:
Bedevaartsplaatsen in Nederland. Del 1: Noord- en Midden-Nederland. Del 2: Provincie
Noord-Brabant. Meertens Instituut, Amsterdam/Verloren, Hilversum 1998).
Die im Artikel zu Recht erwähnte Dauer der Verehrung bis ins 19. Jahrhundert
sollte vielleicht noch betonter formuliert werden.
Der Kult der gekreuzigten Frau in
Flandern
wie in Süddeutschland hat nichts mit der Frühzeit der Christianisierung Deutschlands
zu tun. Der Kult ist sehr wahrscheinlich Frucht der religiösen und gesellschaftlichen
Brüche des 14. Jahrhunderts, etwa der intensiven Christus-Minne, allgemein der
Entwicklung einer persönlichen Frömmigkeit. Aus einer Altarstiftung in
Gent
1391 kann auf eine Entstehung um 1360 geschlossen werden.
Die Spielmanns-Sage hat mit dem Thema nichts zu tun. Das Schuhwunder ist das älteste
und bekannteste der mit dem Volto Santo verbundenen Wunder – bereits im 12. Jahrhundert aufgezeichnet.
Zur Bebilderung: der Schmuckanhänger des 18. Jahrhunderts zeigt eine
Kümmernis, die – wie gesagt - zu der Zeit oft mit Wilgefortis bezeichnet wurde.
Das Wandbild in Düsseldorf
diente zur Verehrung des Volto Santo: datiert in der Literatur zwischen 1444 und 1482
kann es nicht zur Verehrung der Kümmernis angebracht worden sein, die erst ab 1470
entstand. Die Lande am Niederrhein bis zur südlichen Ostseeküste waren ab 1420
Importgebiet für den Wilgefortis/Ontkommerkult. Das Bild ist eine Adelsstiftung,
was typisch für die Volto-Santo-Wandbilder ist. Aus dieser frühen Zeit finden sich
Volto-Santo-Bilder für die Kümmernisverehrung nur in wenigen schwäbischen und
fränkischen Klöstern. In der zweiten Phase des Kümmerniskultes entstehen dann vor
allem unpersönliche Propagandabilder mit Gebetsvorschlägen und Ex votoMit Ex voto (lateinisch: „aufgrund eines Gelübdes”) oder Votivtafel bezeichnet man Tafeln, die nach erfolgreicher Hilfe zur Erfüllung eines Gelübdes an den Ort der Gnade gebracht und dort ausgestellt werden, oft mit Darstellung der abgewendeten Notsituation.-Bilder.
Adelige Verehrung erst im 18. Jahrhundert.
Das von den Geschwistern Walther, Augsburg, Mai 2011 eingesandte Foto aus
Hollenbach
zeigt eine Kümmernis von 1720 (Dehio, Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler.
Schwaben, 3. Aufl. 2008, S. 485). Sie wird hier - wie oben erwähnt - mit ihrem
offiziellen Namen Wilgefortis benannt. Beweis ist der unbeschuhte rechte Fuß der
Skulptur, der aus der ursprünglichen Volto-Santo-Vorlage stammt wie auch die
Nagelung. Aus dem barocken Formengut kommt der bewegte Korpus mit leichter Betonung
der Weiblichkeit. Möglicherweise war die Kruzifixa früher durch einen am Kreuzfuß
knienden Geiger zu einem Ensemble ergänzt.
Vorschlag: Anstelle des Düsseldorfer V. S. das Wandbild der Ontkommer aus
Rostock einstellen.
Arndt Müller über E-Mail, 10. Januar 2012
Anbei eine Wilgefortis- Darstellung in der Pfarrkirche St. Peter und Paul zu Hollenbach im Landkreis Aichach-Friedberg.
Geschwister Erika und Hans-Jürgen Walther aus Augsburg über E-Mail, 5. Mai 2011
Diese Wilgefortis haben wir in der Église St. Étienne in
Beauvais
entdeckt.
Prof. Dr. Jens-Dieter Faulhaber aus Aalen über E-Mail, 29. Januar 2011
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- zuletzt aktualisiert am 01.04.2021
Quellen:
• Charlotte Bretscher-Gisinger, Thomas Meier (Hg.): Lexikon des Mittelalters. CD-ROM-Ausgabe J.B. Metzler,
Stuttgart / Weimar 2000
• http://www.religioeses-brauchtum.de/sommer/heilige_kuemmernis.html
• http://www.beyars.com/kunstlexikon/lexikon_5207.html
• Lexikon für Theologie und Kirche, begr. von Michael Buchberger. Hrsg. von Walter Kasper, 3., völlig neu bearb.
Aufl., Bd. 10. Herder, Freiburg im Breisgau 2001
• https://www.domradio.de/themen/bist%C3%BCmer/2018-11-01/vom-appel-jupp-bis-zur-heiligen-kuemmernis-schraege-heilige-und-ihre-geschichten
• Annette Faber: Kath. Pfarrkirche St. Gangolf Bamberg, 3. Aufl. Schnell & Steiner, Regensburg 2020
korrekt zitieren: Joachim Schäfer: Artikel
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