Ökumenisches Heiligenlexikon

Rufinus in den Vitae Patrum: Über Pior


31. Unter den Altvätern war auch ein gewisser Einsiedler, Namens Pior, welchen der heilige Antonius als Jüngling im Mönchsleben unterwiesen hatte; er hatte aber nur wenige Jahre bei dem heiligen Antonius sich aufgehalten; denn als er fünf und zwanzig Jahre alt war, begab er sich an einen andern verborgenen Ort in der Einöpe, wo er als Einsiedler lebte, und zwar mit Wisssen und Willen des heiligen Antonius, welcher nämlich zu ihm sagte: Geh hin, Pior, und wohne, wo du willst; wenn dir aber der Herr bei irgend einer vernünftigen Gelegenheit etwas offenbart, so komm' wieder zu mir. Als nun dieser Pior an einen Ort, welcher zwischen Nitria und der scythischen Wüste lag, gekommen war, grub er sich einen Brunnen, und dachte bei sich selbst: Was ich auch immer für ein Wasser finden werde, so muß ich mich damit begnügen. Es geschah auch, daß er zur Vermehrung seiner Verdienste ein so bitteres und salziges Wasser fand, daß jeder, der ihn besuchen wollte, sich selbſt in einem eigenen Geschirr sein Trinkwasser mitnahm. Er blieb aber dreißig Jahr lang an diesem Orte. Die Brüder sagten daher zu ihm, er sollte doch von diesem Orte sich wegbegeben, weil das Wasser so bitter sei; er aber antwortete ihnen: Wenn wir die Bitterkeit und Mühe der Enthaltsamkeit fliehen, und in dieser Welt Ruhe haben wollen, dann werden wir nach diesem Leben jener ewigen und wahrhaft süßen Güter nicht theilhaftig werden, und die ewigen Freuden der Seligkeit des Paradieses niemals genießen. Die Brüder erzählten auch, er habe nur einen Zwieback und fünf Oliven zu sich genommen, und dieß nur, wenn er ausging.

Auch versicherten viele heilige Väter von ihm, er habe während der dreißig und noch mehr Jahre, seit er das elterliche Haus verlassen hatte, sich niemals entschließen können, selbst nicht einmal als er die Nachricht vom Tode seiner Eltern erhielt, seine Verwandten zu besuchen. Jedoch schickte seine Schwester, nachdem sie Wittwe geworden, ihre beiden erwachsenen Söhne in die Wüste, auf daß sie ihren Bruder Pior aufsuchen sollten. Nach langem Suchen in verschiedenen Klöstern fanden sie ihn endlich und sprachen zu ihm: Wir sind die Söhne deiner Schwester, welche große Sehnsucht trägt, dich vor ihrem Ende noch einmal zu sehen. Er aber willfuhr ihrer Bitte nicht. Die Jünglinge begaben sich daher zum heiligen Antonius, und setzten ihn von der Ursache in Kenntniß, warum sie gekommen seien. Da sandte Antonius zu ihm, ließ ihn holen und sprach: Mein Bruder! warum bist du so lange Zeit nicht mehr zu mir gekommen? Er aber antwortete ihm: Du hast mir befohlen, seligster Vater! ich sollte erst dann kommen, wenn sich mir bei einer vernünftigen Gelegenheit Gott geoffenbart hätte; allein bisher wurde mir noch keine solche Offenbarung zu Theil. Hierauf befahl ihm der heilige Antonius: Geh hin, damit deine Schwester dich sehe! Er nahm nun noch einen Mönch mit sich und begab sich in das Haus seiner Schwester, und blieb vor der Thüre draußen mit geschlossenen Augen stehen, damit er seine Schwester nicht hatte sehen können. Jene aber kam heraus, warf sich zu seinen Füßen und war vor Freude wie außer sich. Pior sagte zu ihr: Sieh, ich bin dein Bruder Pior, schau mich an, so viel du willst. Hierauf kehrte er in die Einöde zu seiner Zelle zurück. Dieß that er aber zur Belehrung der Brüder, daß es ihnen nicht erlaubt sei, nach ihrem Belieben die Eltern und Verwandten zu besuchen.

136. Als einmal in Scythis die Versammlung zu Ende war, und die Väter von dem Leben Vieler und von verschiedenen andern Dingen sprachen, da schwieg der Abt Pior. Dann ging er hinaus, nahm einen Sack, füllte ihn mit Sand, und trug ihn auf seinem Rücken. Ebenso legte er in ein anderes kleines Tuch abermal Sand, und diesen trug er vor sich. Als dieses die Brüder sahen, fragten sie ihn, was er ihnen denn damit für ein Beispiel geben wolle? Der Abt antwortete: Der Sack, der vielen Sand enthält, sind meine Missethaten; ich habe sie hinter meinen Rücken verwiesen, weil ich sie nicht sehen will, noch sie bereuen, oder über sie trauern. Die wenigen Vergehungen meines Bruders aber, die habe ich vor meine Augen hingestellt, und ich werde durch sie geplagt, indem ich meinen Bruder verdamme. Aber es ist nicht erlaubt, so zu urtheilen, sondern vielmehr meine eigenen Sünden mir vorzuführen, über diese nachzudenken, und Gott zu bitten, daß er sie mir verzeihen möge. Als dieses die Väter hörten, da sprachen sie: In Wahrheit! dieses ist der Weg des Heiles.

Quelle: Heribert Rosweid, deutsch bearbeitet von Michael Sintzel: Leben der Väter. Karl Kollmann, Augsburg 1847




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Autor: Joachim Schäfer - zuletzt aktualisiert am 13.11.2023

korrekt zitieren: Joachim Schäfer: Artikel