Ökumenisches Heiligenlexikon

Hinweise zur "RGG³" Abkürzungen

Orthodoxe Kirche


Vgl. ergänzend die betr. Länderartikel, ferner Altar: III D, Autokephale Kirchen, Byzantinische Kunst, Einigungsbestrebungen: I. III, Gottesdienst: V A, 2, Ikone, Kirchenbau: VI, Kirchenverfassung: III, Klerus und Laien, 1, Marienverehrung: II, Mystagogische Theologie, Mystik: V, Nomokanon, Ssobornost

I. Kirchengeschichtlich

1. Orthodoxie (orthodoxia, russ. pravoslavie) bedeutet Rechtgläubigkeit, die sich vom Protestantismus, Katholizismus und den Häresien der alten Kirche abgrenzt. Der Begriff O. K. ist arbeitshypothetisch, da sie in zahlreiche nationale Kirchen aufgegliedert ist (s. 3). Unter ihrer formalen Einheit in Dogma, Kirchenrecht und Liturgie verbergen sich oft tiefe Wesensunterschiede. - Im Gegensatz zu ideengeschichtlichen (O. K. als Hüterin urchristlicher Integrität gegenüber der angeblich zerfallenden prot. und kath. Kirche, als 3. Kraft zwischen Protestantismus und Katholizismus, als johanneisches Christentum u.ä.) oder zweckbestimmten (ökumenischen oder unionspolitischen) Vorstellungen ist die KG und Konfessionskunde der O. K. Tatsachenforschung. Sie erstreckt sich auf Einzelgebiete wie Liturgie (: III), Heortologie, Hagiographie (Heiligenverehrung: II), Konfessionskunde, Kirchenrecht (Kirchenverfassung: III), Kunstgeschichte (Byzantinische Kunst, Ikone, Kirchenbau: VI). Die Ketzergeschichte (Bogomilen, Katharer, Paulizianer) und Byzantinische Kirchenmusik sind ebenfalls von Bedeutung. Fachdisziplinen wie die Byzantinistik, Slawistik und der »Oriens Christianus« sind um ihre Forschungsergebnisse zu befragen. Vorbildlich in Methode und Beherrschung des ausgedehnten Materials ist jetzt die Darstellung von Beck (s. Lit.). Sie bietet eine Neuorientierung für eine noch zu schreibende KG und Konfessionskunde der O. K. als kritische Zusammenfassung der Tatsachenforschung. Bis dahin wird man sich unter Beachtung der angeführten Kriterien u. a. den Arbeiten von Heiler (prot.) und Janin (kath., s. Lit.) anvertrauen dürfen. Orth. Darstellungen wie die von Zankow, v. Arseniew, Seraphim (von Gewinn nur die Abschnitte der genuin orth. Mitarbeiter) und Evdokimov (s. Lit.) sowie die Sammlungen »Ekklesia« und »Die Kirchen der Welt« (Bd. I) haben vor allem als Selbstzeugnisse Wert. Nur eine ebenso sachkundige wie wissenschaftlich-methodische Forschung kann den westlichen Kirchen das Material liefern, das sie in zunehmendem Maße für das Gespräch mit der O. K. brauchen.

2. Die O. K. ist aus der byz. Reichskirche (Byzanz: II) hervorgegangen, ohne daß sie mit jener völlig zu identifizieren wäre. Die Grundzüge der Kirche des »neuen Roms« haben sich unter Justinian I., nicht schon unter Konstantin d. Gr. entwickelt. Justinian legte in der 6. Novelle zum Corpus Iuris das Verhältnis von Staat und Kirche fest (Kirchenverfassung: III, 1, Orthodoxe Kirche: II, 5): Imperium und Sacerdotium sind dona Dei. Ihre Harmonie ist nützlich für das Menschengeschlecht. Reich und Kirche verdanken Justinian eine das öffentliche und private Leben durchdringende und formende Sakralkultur. Ihr wird auch der Kultus zunehmend dienstbar gemacht. Die Theologie (Orthodoxe Kirche: II, 1) erhält durch Leontius von Byzanz klare Begriffe. Dionysius Areopagita entwickelt eine sowohl für die byz. als überhaupt für die O. K. grundlegende Weltanschauung (Mystagogische Theologie). Durch Johannes von Skythopolis und Maximus Confessor genießt sie über Byzanz hinaus Heimatrecht in der Kirche. Was an der restaurativen Kulturpolitik Justinians von Wert war, rettete sich durch die Völkerstürme der folgenden Jh.e. Nach dem Verlust der orientalischen Nationalkirchen im Arabersturm des 7. Jhs, bei dem nur einige Christen in Ägypten, Palästina und Syrien Byzanz die Treue hielten (sog. Melchiten, syr. malka, »Kaiser«; vgl. Unierte Kirchen des Orients), entstand die eigentliche byz. Reichskirche. Bestandsaufnahme und Selbstbesinnung auf das Wesen des Byzantinischen im Unterschied zum Orientalischen und Abendländischen kennzeichnet die weitere Entwicklung. An ihrem Anfang steht das 2. Trullanum von 692 (Konzile, 3; Zananiri 152-157). Mit ihm beginnt die Aussonderung national-orientalischer Elemente, bes. der syropalästinensischen Lokaltraditionen, im Kultus (Gottesdienst: V A, 2), im Fest- und Heiligenkalender (Feste: IV, Kirchenjahr 1) und in der immer typischer werdenden byz. Ikonographie (Ikone, 4. 5). Die auf vielen Gebieten bleibende Anregung des Orients (Oktoechos, Romanos, Syrien: IV, Typikon) verliert ihre nationalen Züge und geht im Byzantinischen auf. Wieweit die Arbeit des Johannes von Damaskus von diesem Prozeß erfaßt wird, muß die Forschung noch klären. Stand die Epoche Justinians noch unter dem Einfluß von Chalcedon, so kommt jetzt eine Bewegung zum Durchbruch, die bis 1453 andauert. Die Epistola dogmatica Leos I. hat zwar die Kirchen des Ostens vor einem Zerfall in die Ketzereien der Monophysiten (Christologie: II, 5 a) und Nestorianer bewahrt, hat aber zugleich die dem Osten eigentümliche Weise des theologischen Denkens gehemmt. Schon der Areopagite hatte sich - aus welchen Gründen auch immer - von Chalcedon unabhängig gemacht. Auf der von ihm geschaffenen Basis werden Theologie und Christologie im 8./9. Jh. durch den Bilderstreit (Bilder: III, 2) und im 14. Jh. durch die Hesychasten (Gregor Palamas; vgl. Beck 663 ff. 712 ff.) zum Abschluß gebracht. Dabei spielen die Begriffskategorien des Aristoteles eine wichtige Rolle. Der Anteil Platos muß noch genauer erforscht werden (vgl. F. Dölger - A. M. Schneider, Byzanz, 1952; 197 f). Konstantinopel wird ideologisches Zentrum mit dem Apostel Andreas als Schutzpatron und Städtegründer, nicht zuletzt auch gegenüber Rom, und strahlt tief in den slawischen Raum aus. Die Auseinandersetzung mit den Franken (Karl d. Gr., 1) und dem Papsttum (: II) lassen den Patriarchen Photios im 9. Jh. die Konsequenz ziehen: Die gesamte Kraft der Reichskirche wird auf Südost- und Osteuropa konzentriert (Kiew, Konstantin und Methodius, Rußland: I). Über das vom Patriarchen Michael Kerullarios 1054 vollzogene Schisma mit dem Westen können auch die späteren Einigungsbestrebungen (: I. III) nicht hinwegtäuschen. Praktisch sind sie nie zur Wirkung gekommen (Orthodoxe Kirche: II, 9). Schon vor dem Fall von Konstantinopel (1453) hatten sich slawische Nachfolgekirchen entwickelt, unter denen die russische eine weltgeschichtliche Rolle spielen sollte.

3. Damit hatte die Geschichte der O. K.en bereits begonnen. Theologie und Frömmigkeit der slawischen Völker hatten außerhalb des byz.-europäischen Reichsgebietes, in den Provinzen des Ostens, oder durch unmittelbare frühchristliche und orientalische Traditionen wichtige Impulse empfangen. Dabei spielte der Athos eine wichtige Rolle. Das Kirchenslawische gab diesen Völkern die Möglichkeit kultureller Eigenentwicklung, wie sie sich bereits im 10. Jh. in Bulgarien durch Bibelübersetzungen mit antibyz. Tendenz Ausdruck verschaffte. Die jungen slawischen Kirchen hatten auch zunächst den Bruch mit dem Westen nicht sofort so stark empfunden wie die byz. Mutterkirche selbst. Bei ihnen kreuzen sich deshalb noch einige Zeit byz. und westliche Kultureinflüsse. Auf der anderen Seite standen sie unter byz. Jurisdiktion und übernahmen damit byz. Hierarchie und Kultus. Für die KG ergeben sich daraus eine ganze Reihe von Forschungsaufgaben, die eine lebendige geschichtliche Entwicklung und Auseinandersetzung mit dem byz. Erbe zeigen. Keine dieser Kirchen auf dem Balkan (Albanien, Bulgarien, Jugoslawien, Rumänien) und in Osteuropa (Polen, Tschechoslowakei, Ukraine, Ungarn), auch nicht in Griechenland, ist nur eine schablonenhafte Wiederholung der byz. Reichskirche. Es wäre z. B. verfehlt, die russische Theologie und Frömmigkeit als byz. zu bezeichnen. Sie stellen vielmehr einen eigenen, eben russisch-orth. Typus dar.

4. Die O. K. ist deshalb keine bis in die Neuzeit hinein verlängerte byz. Reichskirche, kein europafremdes Petrefakt, kein zurückgebliebenes Glied der Kirche Christi (etwa als »Kirche der Mystik« gegenüber der »Kirche des Denkens« im Westen), sondern eine geschichtliche Größe eigener Art. Ihre Kompliziertheit in KG und Konfessionskunde sollte nicht durch ungeschichtliche Vorstellungen vereinfacht werden. Liturgie und Frömmigkeit (Orthodoxe Kirche: II, 8) besitzen Elemente einer echten Reintegration und Reform. So kommt z. B. der Predigt (: I, 2) mit ihrer reichen Geschichte neben der reinen Mysterienfeier der Liturgie wieder große Bedeutung zu. Dem Laien werden heute neue Rechte und Pflichten eingeräumt (Klerus und Laien, 1). Für die immer deutlicher werdende Auseinandersetzung mit dem Islam bringen die O. K.n des Orients eine reiche Erfahrung mit, die von den westlichen Missionen kaum beachtet worden ist. Schließlich hat die russische Kirche als erste einen modus vivendi mit einem atheistischen Staat gefunden.

Allgemein u. zu 1: R. JANIN, Les églises orientales et les rites orientaux, Paris (1922) 19554 - F. HEILER, Urkirche u. Ostkirche, 1937 (126 f ältere Lit.: V. ARSENIEW, ZANKOW u. a.) - Ekklesia X, Lfg. 45. 46, 1939/41 - J. TYCIAK, Wege östlicher Theol., 1946 - K. ONASCH, Geist u. Gesch. d. russ. Ostkirche, 1947 - SERAPHIM (Lade), Die Ostkirche, 1950 - W. DE VRIES, Der christl. Osten in Gesch. u. Gegenwart, 1951 - G. ZANANIRI, Hist. de l'église byz., Paris 1954 - R. A. KLOSTERMANN, Probleme der Ostkirche, Göteborg 1955 - MULERT-SCHOTT (72-174 von K. ONASCH) - ALGERMISSEN7 412 ff. (Lit.) - E. BENZ, Geist u. Leben der Ostkirche, 1957 - EKL I, 639 ff.; II, 1738 ff. - Die russ.-orth. Kirche, Moskau 1958 - BECK - Die Kirchen der Welt I: Die O. K. in griech. Sicht, hg. v. P. BRATSIOTIS, 2 Tle, 1959/60 - P. EVDOKIMOV, L'Orthodoxie, Neuchâtel-Paris 1959. - Hilfsmittel: 1. Forschungsberichte von H. SCHAEDER in EvTh. - 2. Zs.en, Periodica (Auswahl!): AIPh, AnOr, ByZ, Byzantion, Byzantinoslavica, Eastern Churches Quarterly, Irénikon, Kirche im Osten, Nea Siôn, Or, OrChr, OrChrP, Orthodoxia, Ostkirchl. Studien, Put', St. Vladimir's Seminary Quarterly, ThAthen, Vizantiskij Vremennik, ZMP (Regesten in ThLZ), ZSlPh. - 3. Lexika: Pravoslavnaja Bogoslovnaja Enciklopedija I-XII, 1900-11 (Orth. theol. Enzykl., russ.). - Slaw. Nomenklatur: FR. MIKLOSICH, Lexikon Palaeoslovenico-Graeco-Latinum, 1862-65 - I. I. SREZNEVSKIJ, Materialien für ein WB der altruss. Sprache I-III, (1893) 1958 (russ.) - M. VASMER, Russ. Etymolog. WB I-III, 1955-58 - Lexicon Linguae Palaeoslovenicae, Prag 1958 ff. - Zu 2 (vgl. auch die Lit. zu Byzanz: II): CH. DIEHL, Justinien et la civilisation byz. au VIe siècle, Paris 1901 - H. U. V. BALTHASAR, Kosmische Liturgie, 1941 - W. SCHUBART, Justinian u. Theodora, 1943 - E. V. IVÁNKA, Hellenisches u. Christliches im frühbyz. Geistesleben, 1948 - R. JANIN, La prise de Constantinople (NRTh 75, 1953, 511-519) - M. SESAN, La chute de Constantinople (Byzantinoslavica 14, 1953, 271-282) - ST. RUNCIMAN, The Eastern Schism, 1955 - J. BUJNOCH, Zwischen Rom u. Byzanz, 1958 - W. OHNSORGE, Abendland u. Byzanz, 1958 - FR. DVORNIK, The Idea of Apostolicity in Byzantium and the Legend of the Apostle Andrew, Cambridge/Mass. 1958. - Zu 3: JANIN 75 ff. - HEILER 149 ff. 153 ff. - FR. DVORNIK, The Making of Central and Eastern Europe, 1949 - ZANANIRI 251 f. - BECK 148 ff. - Zu 4: B. SPULER, Die Gegenwartslage der Ostkirchen, 1948 - W. DE VRIES (s. o.) - DERS., Zur neuesten Entwicklung der Ostkirche, 1953 - G. MASTRANTONIS, What is the Eastern Orth. Church?, 1956 - J. PERRIDON, Proche-Orient Chrétien 7, 1957, 250-260. 305-309 (Reform der Liturgie) - H. SCHAEDER, Aus d. Leben der O. K. des Ostens (MPTh 47, 1958, 126-128). - Weiteres bei Orthodoxe Kirche: II.

K. Onasch

II. Konfessionskundlich

1. Aus Gründen, deren Geschichte hier nicht nachgewiesen werden kann (Aristotelismus, 2 b. c; Hellenismus, 4; Platonismus), fehlt der orth. Theologie fast völlig Begriff und Vorstellung der forensischen Rechtfertigung (: II). An ihre Stelle tritt der Vergottungsgedanke, wie ihn Athanasius (De incarn. Verbi, c. 54) klassisch formuliert hat. Die Erlösung (: IV, 2) ist weniger ein Akt als ein Prozeß, den Gott von Ewigkeit her beschloß und in der Inkarnation, in dem in der Teilhabe des menschlichen Leibes durch den Logos für alle geleisteten Leiden und Sterben (De incarn. Verbi, c. 9), in Auferstehung und Wiederkunft des Gottmenschen ablaufen läßt. Der Mensch hat durch die Ursünde, das Mysterium iniquitatis (eine Erbsündenlehre [Sünde: V. VI] fehlt), seinen freien Willen nicht verloren. Er bleibt autexousios und wirkt an dem den Kosmos umfassenden Heilsprozeß mit (Anthropologie: III, 1 b). Diese Vorstellungen begegnen bereits sehr früh in den Präfationen (Gottesdienst: V A, 2 a b). Mit der Inkarnation des Gottmenschen beginnt keimhaft die Seinsmetamorphose (dt. »Verklärung« ist vieldeutig!) der Menschheit, soweit sie an diesen Gottmenschen glaubt. Der Gnade (: IV, 1 a) muß sich der Mensch durch seine Werke würdig erweisen. Dabei ist es die Gnade, die auch als Energie Gottes verstanden wird (Gregor Palamas), und nicht die Natur, welche den Menschen zum Heil zieht. Die Christologie (: II) ist ebenfalls seinstheologisch (Ontologie) zu verstehen. Durch das Sein des Gottmenschen wird das Sein des Menschen gerechtfertigt. Mystiker wie Symeon der neue Theologe oder Kabasilas können deshalb die Inkarnation in ihrem Herzen wiederholen (s. 8). Voraussetzung ist die Enhypostasie der menschlichen Natur Christi im göttlichen Logos, wie sie seit Leontius als dogmatisch einwandfrei gilt. Der Christologie folgt die Ekklesiologie: Die Kirche (: III, 2 b. c) ist die Fortsetzung des soteriologischen Heilsprozesses, sowohl was ihren hierarchisch-liturgischen Status (s. 6) als auch was ihre Ssobornost betrifft. Ihre Integrität wird durch das Dogma (s. 2) garantiert. Ausgesprochene notae ecclesiae außer »eine, hl., kath. und apostolische Kirche« gibt es nicht (vgl. 9). Zwar ist die Kirche beim Areopagiten entheos politeia (Ep. 9) mit eigener Ordnung (Ep. 8), aber es fehlt ihr die Geschichtskonzeption des Augustin. Aus diesem Grundebesitzt die O. K., von ein paar Einzelgängern abgesehen, auch keine ausgeführte Eschatologie (: V, 2). Die Wiederbringung Aller als Konsequenz des durch den Gottmenschen gerechtfertigten menschlichen Seins ist seit Maximus dem Bekenner ein latentes und oft mit paganen Vorstellungen vermischtes Problem. In der Dogmatik wird sie seit Justinian I. als origenistische Ketzerei verschwiegen. Bestimmte Lehrauffassungen von den letzten Dingen finden sich im Kultus (Begräbnisriten, Höllenfahrt Christi, Bußkanon des Andreas von Kreta, Liturgie der 4 Vorfastensonntage, u. a.). - Eine Kritik der orth. Theologie wird bei der ontologischen Grundlegung anzusetzen haben. Dabei wird man den Begriff der Vergottung nicht überinterpretieren dürfen. Er ist ein echtes Äquivalent zur westlichen Rechtfertigungslehre. Ebenso ist zu warnen, die Christologie oder Ekklesiologie der russischen Religionsphilosophen als legitime Auslegung des orth. Dogmas anzusehen. Die »Entgrenzung« der Kirche z. B. zu einem umfassenden Kulturphänomen oder die Rechtfertigung der Geschichte durch das Gottmenschentum Christi sind aus einer oft schwer zu analysierenden Synthese von genuin orth. und liberal-prot. Vorstellungen (s. 9) zu verstehen. Dagegen bietet das ekklesiologische Selbstverständnis der O. K., wie es in Theologie und Dogma niedergelegt ist, echte Ansatzpunkte zu einem ökumenischen Gespräch.

2. Das Dogma (: II, 2) hat zum Mittelpunkt die Menschwerdung Gottes, die für die O. K. ein mysterium bleibt und ein sacrificium intellectus (Opfer des Verstandes) fordert. Darüber hinaus werden theologische Lehrmeinungen durch die 7 ökumenischen Konzile (, 3) zum Dogma erhoben. Neben ihnen haben auch die Liturgien des Chrysostomus und Basilius (Gottesdienst: V A, 2, Liturgie: III, 3. 4) dogmatische Gültigkeit. Hymnen und Gebetsstücke finden sich in Konzilsakten und anderen Lehrentscheidungen als dogmatische Loci wieder. Dogma und hl. Schrift werden durch schriftliche und mündliche Tradition (: VI) ausgelegt. Sie schützt das Corpus dogmaticum vor Neuerungen (Neoterismói). Ihre Aufnahme steht nur ökumenischen Konzilen durch den »Instinkt der Ssobornost« zu. Diese Praxis ist durch das Schisma von 1054 unmöglich gemacht. Bereits die Aufnahme des Filioque (Geist: V, 3) in das Dogma durch die röm. Kirche ohne Befragen der byz. galt und gilt der O. K. als ein Neoterismós. Auch der Protestantismus erscheint ihr als solcher (s. 9). Die Orthodoxie steht hier vor einem schwierigen Problem: Die Abwehr eines wirklichen Neoterismós kann sich zu einer ungeschichtlichen Fiktion ausweiten und einer geschichtlich notwendigen sowie durch eine legitime Auslegung durch die Tradition gerechtfertigten »Neuerung« den Weg versperren. Je mehr sich die O. K. geschichtlich verstehen lernt, um so mehr wird sie dieser Frage gegenüber aufgeschlossen werden. Dabei werden von prot. Seite (auf röm.-kath. Seite liegen die Dinge einfacher) weniger ideengeschichtliche Perspektiven als vielmehr ein sachliches Durchdenken von Tradition und Neoterismós (vgl. Müller, s. Lit.) ein Gespräch mit dem orth. Partner an diesem wichtigen Thema fruchtbar machen können. - Vgl. Bekenntnisschriften, 7.

3. Einheit und Integrität von Dogma und Tradition werden von den autokephalen Kirchen verwaltet. Über ihren Aufbau und Bestand, ihre politischen, sozialen und soziologischen Verhältnisse unterrichten die Notitiae episcopatuum (s. Beck 148 ff.). Die Autokephalie ist selbst ein unaufgebbarer Bestandteil der Tradition, da sie über mancherlei Entwicklungen auf die altkirchlichen Bischofskirchen mit ihren apostolischen Traditionen zurückgeht. Kennzeichnend für sie ist die Ablehnung eines Primates und die Formel von der Pentarchie (Beck 34). Diese sollte die Patriarchate von Konstantinopel, Alexandrien, Antiochien, Jerusalem und Rom umfassen. Da Rom praktisch ausfiel, blieb es bei einer Tetrarchie, bei der sich allerdings der Primat Konstantinopels geltend machte. Es hatte seine Position gegenüber dem Westen und dem Osten in can. 3 des Konzils von 381 als Ehrenprimat hinter Rom vorbereitet und in can. 28 (de iure-Primat hinter Rom) und 17 (Appellationsinstanz) von Chalcedon gefestigt (Kirchenverfassung: II, 4 b). Den Titel eines ökumenischen Patriarchen hatte bereits Dioskur von Alexandrien als Konkurrent des Patriarchen von Konstantinopel geführt. Im 6. Jh. üblich, wird er erst von Photios protokollarisch verwandt. Michael Kerullarios übernimmt ihn in das Patriarchatssiegel. Der Neuerrichtung autokephaler Kirchen, vor allem bei den slawischen Völkern, ist der ökumenische Patriarch immer nur sehr zögernd nachgekommen. Man befürchtete und befürchtet eine Zersplitterung der jurisdiktionellen und dogmatisch-traditionellen Einheit der O. K. Überbetontes Selbständigkeitsstreben wird als Phyletismus (der dem Neoterismós [s. 2] entspricht) bezeichnet und oft als Ketzerei angesehen.

4. Das Leben von Klerus und Laien (, 1) in der O. K. wird durch das kanonische Recht geregelt (Kirchenverfassung: III). Auch dieses ist ein Stück der Tradition. So hat das Trullanum (Orthodoxe Kirche: I, 2) die Apostolischen Konstitutionen verworfen, aber die Apostolischen Canones rezipiert und ihnen damit kanonische Geltung verschafft. Auf diesem Grundstock baute Johannes Scholastikus (Beck 422 f) auf und sammelte dazu die kirchlichen und die Kaisergesetze, unter den letzteren bes. die Novellen Justinians I. Schließlich wurden alle die Kirche betreffenden Materien im Nomokanon gesammelt, in den auch das Laienrecht verarbeitet wurde. Er wurde als kormcaja kniga (»Steuermannsbuch«) mit dem Zakon sudnyj ljudem (Nomos im Laienprozeß) vielleicht schon von Konstantin und Methodius zu den Slawen gebracht. Theoretisch, wenn auch nur selten praktisch (s. 5), unterschied sich das Recht der Kirche als Körperschaft sui iuris durch strengere Verbindlichkeit vom Kaisergesetz. So wurde das Profanrecht (nomos) zwar formal vom Kirchenrecht (kanones) abgegrenzt, aber beide bildeten praktisch eine das öffentliche und private Leben beherrschende Einheit. Zu Überschneidungen kam es allerdings wiederholt beim Eherecht (s. Dölger-Schneider, Byzanz 227). Das kanonische Recht ist die Leistung der byz. Reichskirche, auf dem spätere Sammlungen der O. K. wie das Syntagma des Blastares von 1355 und das Pedalion des Nikodemus von Naxos († 1808) aufbauen. Sie bilden bis heute die Richtschnur für Seelsorge und kirchliche Verwaltung in den O. K.n.

5. Das Phänomen des byz. Sakralstaates, das »Corpus politicum mysticum«, steht, so interessant es für die Geistes- und Kulturgeschichte sein mag, außerhalb der kirchlichen Tradition. Die 6. Novelle Justinians beschreibt das Verhältnis von Kirche und Staat (, 2 b) nur allgemein. Die Umschreibung als Cäsaropapismus trifft nicht zu, da es sich nicht um die »Konkurrenz zweier perfekter Sozietäten« (Beck 36) handelt. Es geht im Grunde um das »Volk der Rhomäer«, wie es sich als Kirchenvolk zugleich im Kaiser repräsentiert. Nach Beck ist die byz. Kirche nie eine »Hochkirche« gewesen. Als Vorbild dienten die Vorstellungen vom antiken Herrscherkult und vom sakralen Königtum (Hellenismus, 5). Für diese heidnischen Leitbilder konnte es keine kirchliche oder gar apostolische Tradition geben. Sie wurde ersetzt durch theologische Notkonstruktionen, wie sie bereits bei Euseb von Cäsarea im Gedanken vom Reich als Nachahmung (mimêsis) des Reiches Gottes vorliegen. Im späteren Kaiserzeremoniell wird der byz. Basileus zum Apostelgleichen (isapostolos) und Vicarius Dei, der das Throntabernakel nur stellvertretend einnimmt. Wieweit dieser Sakralstaat, wie es oft von der kath. Forschung (z. B. A. Michel) behauptet wird, eine Ketzerei der byz. Kirche ist, bleibt nach allem Gesagten fraglich. Die von orth. und prot. Seite vorgetragene These vom »konstantinischen Zeitalter« (Kartaschow-Wolf) vereinfacht zwar stark die geschichtlichen Fragen, hat aber das tiefer gehende Problem der »Volkskirche« richtig erkannt.

6. Die O. K. konstituiert sich in der Hierarchie (Kirchenverfassung: III). Seit frühchristlicher Zeit bis heute ist der Bischof (: I) der eigentliche Liturg. Er »delegiert« den Priester für die Liturgie. Im areopagitischen System ist der Bischof der Mittler zwischen himmlischer Hierarchie, ihrem Gottesdienst und ihren irdischen Abbildern. In der apostolischen Sukzession stehend ist der Episkopat Träger der Tradition, deren Dogma er zugleich in der Liturgie (Gottesdienst: V A, 2) darstellt. Es gibt folgende kirchliche Ämter (in Klammern die slawische Bezeichnung): 1. Bischof, episkopos, archiereus (Epískop, Archieréj); 2. Priester, presbyteros, hiereus (Ieréj, Svjascénnik; Pop = ursprünglich Priester [vgl. EKL III, 259] ist heute geringschätzig); 3. Diakon, diakonos (Diákon); 4 a Subdiakon, hypodiakonos (Ipodiákon); 4 b Vorleser, anagnôstês (Ctec); 4 c Sänger, psaltês (Pevéc); oft noch 4 d Türhüter, paramonarios (Paramonár). Die Ordination (: V) durch einen einer autokephalen Kirche unterstehenden Bischof wird bei 1-3 mit Handausstreckung (cheirotonia Rukopolozénie), bei 4 a. b mit Handauflegung (cheirothesia, Rukovozlozénie) vollzogen. Die Einführung von 4 geschieht außerhalb der Liturgie. Die kanonisch einwandfreie Ordination berechtigt zur Spendung der Sakramente (mystêria, Taínstva). Von gelegentlichen Abweichungen abgesehen, zählt die O. K. seit dem Unionskonzil von Florenz (1439) 7 Sakramente: 1. Taufe, baptisma (Krescénie); 2. die ihr unmittelbar angeschlossene Salbung, myrôma (Miropomázanie); 3. Eucharistie, Abendmahl, leitourgia (Liturgíja); 4. Buße, exomologêsis; (Ispovédanie); 5. Ordination (s. o.); 6. Ehe, bestehend aus dem Verlöbnis, arrhabôn (Obrucénie), und der Krönung, stephanôma (Vencánie); 7. Krankenölung, hagion elaion (Svjatój Eléj). Die Formulare für diese Riten und Offizien finden sich im Euchologion (Gottesdienst V A, 2 b). Das liturgische und sakramentale Leben ist der Kraftquell der O. K. Es steht unter dem Schutz des kanonischen Rechts (s. 4). Als Träger göttlicher Realitäten begründen die Sakramente das neue Sein des Menschen. Byz. Mystiker (s. 1. 8) haben um die Erneuerung der sakramentalen Gnadengaben inmitten einer verflachten Massenkirche gerungen. Aus dem neuen, durch die Mysterien geschenkten Leben erwächst die wesensmäßige Angleichung an Christus, welche die Sittlichkeit und damit die guten Werke miteinschließt. So wird sakramentales Denken und Leben der »Ort im Leben« für die Theologie der O. K. Der Konfessionskunde bietet sich das Bild einer eindrucksvollen Geschlossenheit (keiner undifferenzierten Uniformität!) von Theologie, Dogma, Tradition, Hierarchie und liturgisch-sakramentalem Leben.

7. Das Mönchtum (: II), ohne es idealisieren zu wollen, war und bleibt der Hort dieses geistlichen Lebens der O. K. Aus ihm rekrutiert sich der hohe Klerus (in Rußland: Schwarze Geistlichkeit, Cërnoe Duchovénstvo), der im Unterschied zum niederen Klerus (oben 2-4; in Rußland: Weiße Geistlichkeit, Béloe Duchovénstvo) unverheiratet ist. Abgesehen von den unierten Basilianern gibt es in der O. K. keine Orden. Das einzelne Kloster (: III) hat sein Typikon, welches das Zusammenleben der Brüder disziplinär und liturgisch (Stundengebet: I, 1) regelt. An der Spitze steht der Hegúmen, hêgoumenos (Igúmen), der etwa dem röm.-kath. Abt entspricht. Archimandrit ist ein Ehrentitel. Der Hegúmen wird vom Bischof geweiht, der die jurisdiktionelle und sittliche Oberaufsicht führt. Exemt im Sinne der röm. Exemtion sind die sog. Stauropegialklöster (Stauropegion), die einem Metropoliten oder Patriarchen unterstehen. Dem Hegúmen steht oft ein Rat von Altmönchen zur Seite (Geronten, gerontes; slaw. Starcy, Starzen, Mystik: V). Denselben Namen führen auch charismatisch bes. begabte Seelsorgermönche. Sie brauchen nicht unbedingt Priestermönche (Hieromonach) zu sein. Ein solcher Geront (Starze) wird nicht selten zum geistlichen Vater (patêr pneumatikos) eines Klosters. Die Einkleidung (röm. Profeß; Kloster: III, 4) unterscheidet das kleine und das große Schima (mikron bzw. mega schêma). Mit der Übernahme des Schima ist Namenswechsel verbunden. Das Noviziat umfaßt in der Regel 3 Jahre. Der Novize (archarios, eisagôgikos, slaw. Poslúsnik) erhält die Tonsur (apokarsis, slaw. Poslúsnik), die beim Schima wiederholt wird. Die von Stiftern (ktitores) gegründeten Ktitorklöster unterscheidet man gerne von solchen, die nur durch die Haupttugenden der Mönche (Wachen, Fasten [: II, 2], Beten, Tränen) gestiftet und erhalten werden. Armut (: II), Gehorsam und Keuschheit haben nicht dieselbe kanonische Geltung wie in der röm. Kirche. - Die O. K. kennt 3 Formen des monastischen Lebens: a) die alte Anachorese des Eremiten (slaw. Pustýnja, Skit), von dem das Trullanum (692) einen 3jährigen Probeaufenthalt im Kloster verlangte; b) die Koinobia (slaw. Obscezitië) mit streng geregeltem Gemeinschaftsleben und Eigentumsverbot; c) die Idiorrhythmie (ursprünglich ein Schimpfwort; slaw. Osobozitië), die sich vom 14. Jh. ab vom Athos ausbreitet. Bei ihr ist Eigentum gestattet. Sie ist vorzugsweise die Form des Eremitenlebens in Verbindung mit einem Kloster. - Die offenbar unausrottbare Meinung des Westens, das orth. Mönchtum sei weltfremd und kulturfeindlich, entspricht nicht den Tatsachen. Byz. Mönchtum ist auf dem Balkan und in Kleinasien kolonisatorisch tätig gewesen. Dasselbe gilt für das russ. Mönchtum (Rußland: I). Geistliches Zentrum war für Jh.e in der O. K. der Athos. Der dort gepflegte Hesychasmus (Hesychasten, Mystik: V) wurde zu einer Trostreligion für die von den Türken unterjochten slawischen Völker. Die Philokalia des Athosmönchs Nikodemus von Naxos verbreitete in allen O. K.n die Ideale der Askese und Kontemplation unter den Laien. - In der Sowjetunion unterstehen die Klöster jurisdiktionell und verwaltungsmäßig dem Patriarchat. Auf Wunsch erfolgt die Klosterbewirtschaftung in Form von Eigenkolchosen. Über abgabefreie Naturalien verfügt dann das Kloster selbst.

8. Die Frömmigkeit der O. K. ist ein bes. schwieriges Forschungsgebiet. Grundsätzlich muß vor einer Mystifizierung oder Hypostasierung irgendeiner Volksseele gewarnt werden. Sie ist überdies auch theologisch nicht zu vertreten. Die wissenschaftlich-methodische Untersuchung umfaßt alle in Orthodoxe Kirche: I, 1 erwähnten Spezialgebiete und Disziplinen, zu denen noch die Folklore (Kirchenkunde) zu rechnen ist. Unter Beachtung der oben ausgesprochenen Warnung ist bei dieser Arbeit auch die Religionspsychologie (Frömmigkeit) heranzuziehen. Für den Bereich der byz. und O. K. sind von kath. Seite die Arbeiten von H. Delehaye und P. Peeters vorbildlich (s. Lit.). Für die russ.-orth. Frömmigkeit sei auf die Untersuchung von Mansikka (s. Lit.) verwiesen. In den meisten Fällen ist es sehr schwierig, orth. Elemente vom Aberglauben und der Häresie zu trennen (s. Lit.: Onasch). Außerdem ist das Material bei den einzelnen orth. Völkern verschieden. Alle diese Voraussetzungen gelten auch für die im engeren Sinne orth. Frömmigkeit, wie die Marien-, Christus- (Christusbild, Christusmystik) und Heiligenverehrung (: II). Dabei sind die Formen der privaten Frömmigkeit von derselben Bedeutung wie die der offiziell-kirchlichen. So hat z. B. die Ikone ihren Ort nicht nur im Gottesdienst und an der Bilderwand, sondern ebenso in der »schönen Ecke« (wie sie in Rußland heißt) des Privathauses. Oft ist eine starke Verdinglichung oder Personifizierung festzustellen, wenn etwa die Ikone bei einer unmoralischen Handlung umgedreht wird. Wie die Ikone hat das Gebet (: V) nicht nur im Gottesdienst, sondern auch im Privatleben seinen festen Platz. Es hat sich eine tief in der Geschichte des Mönchtums (s. 7) verwurzelte Gebetspraxis entwickelt, die mit dem Vergottungsgedanken (s. 1) eng zusammenhängt. Das ältere, aber vom Hesychasmus wieder bewußter gepflegte Jesus-Gebet (»Jesus Christus, du Sohn Gottes, erbarme dich meiner«) ermöglichte und ermöglicht noch heute dem Frommen, auch außerhalb des Gottesdienstes zu beten. Die Gebetstechnik kann er soweit vollenden, daß er beim Aus- und Einatmen das Jesus- Gebet im Herzen spricht. Dabei erlangt er die Schau (theôria, slaw. Vidénie) der Herrlichkeit Gottes und wird selbst verherrlicht, d. h. dem Außenstehenden erscheint er mit verklärtem Angesicht. Geistlichem Hochmut wird durch eine strenge Praxis (praxis) gewehrt, die vor allem in unbedingtem Gehorsam einem geistlichen Vater (s. 7) gegenüber besteht. Für dieses geistliche Gebet (noera proseuchê) gibt es eine umfangreiche, bis auf Barsanuphios u. a. zurückgehende Literatur, die in der Philokalia gesammelt ist. So entstand, durch das Mönchtum gefördert, ein mystisch-enthusiastische Kirche des frommen Herzens neben dem offiziellen gottesdienstlichen und sakramentalen Leben. Die Gefahr ihrer Übertreibung (Liturgie und Sakrament nebensächlich, ja unnötig, daraus folgend Ablehnung von Hierarchie und Liturgie) ist sowohl von der Kirche als auch von besonnenen Vertretern dieses Enthusiasmus erkannt worden. - Eine eigenartige und nur in der O. K. anzutreffende Form persönlicher asketischer Frömmigkeit muß noch erwähnt werden: der Narr in Christo, der salos (slaw. Juródivyj; Narrheit). Dieser Typus hat wohl z. T. den spätantiken Kyniker zum Vorbilde gehabt. Aber die Opferung der eigenen Intelligenz und des moralischen Rufes zum Heil einer religiös oberflächlichen Menschheit konnte seine Wurzel auch im Prophetentum des AT und in der praktischen Anwendung von Worten des NT wie 1Kor 4, 10; 3, 18 haben. Mit närrischen Symbolhandlungen (z. B. Werfen von Nüssen auf die Gemeinde vom Ambo [Kanzel] aus) wollte der Salos den Gläubigen die Würde von Liturgie und Sakrament ins Bewußtsein zurückrufen. Er mußte solche mutigen Taten mit Schlägen und Entehrungen bezahlen. Dafür war er aber fast der einzige, der mit der Botschaft der Sündenvergebung in die Slums der spätantiken Großstädte vordrang. Die berühmtesten Gottesnarren sind in Byzanz Symeon und Andreas im 6. und 10., in Rußland Vasilij im 16. Jh. Nach dem letzteren ist die berühmte Kathedrale auf dem »Roten Platz« in Moskau benannt. Der hagiographische Typus des Salos hat auch auf die schöne Literatur eingewirkt (Myschkin im »Idioten« von Dostojewskij). - Auf die Verehrung bestimmter Gegenstände wie des Kreuzes (: II) oder der Reliquien kann hier nur hingewiesen werden.

9. Die antibyz. Politik der Kreuzzüge, die barbarische Einnahme Konstantinopels durch die Kreuzfahrer 1204 und das Ausbleiben abendländischer Hilfe i. J. 1453 (trotz der Union mit Rom!) hat die Stellung der O. K. zum Westen bis ins 19. Jh. hinein mitgeprägt. Sie befand sich in der Türkei wie in Rußland in ausgesprochener Abwehrstellung zur röm.- kath. wie zur prot. Kirche. Das konfessionelle »Zwischenreich« der Unierten Kirchen in Polen-Litauen und auf dem Balkan hat sie in dieser Haltung nur bestärkt. Das Verhältnis zu Rom läßt sich weithin an den Schicksalen der Unierten Kirchen ablesen. Etwas differenzierter gestaltete es sich zum Protestantismus. Dabei spielte Böhmen eine wichtige Rolle. 1452 nahmen hussitische Kreise Kontakt mit Konstantinopel wegen Unionsverhandlungen auf, die aber durch die Katastrophe von 1453 gegenstandslos wurden. Dagegen mußten die Bemühungen Melanchthons und der Tübinger Theologen um ein fruchtbares Gespräch mit dem ökumenischen Patriarchen fehlschlagen, weil Jeremias II. in allen seinen Antwortschreiben die reformatorische Lehre als Neoteropoiía (Neoterismós, s. 2) ablehnte. In dieser Auffassung wurde die O. K. noch bestärkt, als Lukaris calvinistischen Gedanken in das orth. Dogma Eingang zu verschaffen suchte. Sie wurden durch Mogilas und Dositheus abgewehrt. Diese Auseinandersetzungen mit Polemiken gegen die kath. Kirche hat aber der Ekklesiologie der O. K. (s. 1) deutlichere Umrisse gegeben (vgl. Heiler 213 f). Der Protestantismus hat auf anderen Wegen Einfluß auf die orth. Kulturgeschichte nehmen können. Die von A. H. Francke erhofften Missionserfolge seiner Rußlandbeziehungen blieben zwar aus, dafür hat aber die prot. Aufklärung auf die russische Kirche des petrinischen Zeitalters, vor allem unter Theophan Prokopowic, stark eingewirkt. Auch der Beziehungen eines Buddeus und Mosheim zu Rußland sei hier gedacht. Johann Arnd ist ebenfalls dort viel gelesen worden (Tychon Sadonski). Weniger zweckbestimmt als bei Francke war die ökumenische Gesinnung Zinzendorfs. Durch seine Verbindung mit den böhmischen Brüdern (Brüderunität: I. II) wurde er mit Traditionen bekannt, die nach Konstantinopel wiesen. Wie einst die Hussiten trat auch Zinzendorf in Unionsverhandlungen mit dem Patriarchen Neophyt. Eine 1743 angetretene Reise nach Rußland schlug fehl, wie auch die Verhandlungen mit Neophyt zu keinem Ergebnis führten. Zinzendorf übernahm zahlreiche Hymnen und Gebete der O. K. in den Gottesdienst der Brüdergemeine, ja er entdeckte eigentlich die orth. Liturgie neu für den Protestantismus. Das entkonfessionalisierte Christentum der Romantik (Baader) hatte während der Zeit Zar Alexanders I. nur vorübergehenden Einfluß auf die russische Orthodoxie. Dagegen wird immer deutlicher, wie stark der prot. Liberalismus (: II. III) auf Männer wie z. B. Chomjakow, Solowjow, Dostojewskij eingewirkt hat (vgl. L. Müller, Atti del Congr. Intern. Scienze Storiche Roma 1955, o. J., 706 ff.). Es gab und gibt zwar zahlreiche orth. Schüler namhafter prot. und kath. Fachgelehrter des 19. und 20. Jh.s, aber außerhalb der wissenschaftlichen Zusammenarbeit ist es bisher zu keiner wirklichen Annäherung der Kirchen des Ostens und Westens gekommen. Wieweit das Verhältnis zwischen prot. und O. K.n gegenwärtig in ein neues Stadium getreten ist, wird erst eine spätere Generation historisch voll ermessen können (Einigungsbestrebungen: III).

Vgl. die Lit. zu Orthodoxe Kirche: I. Zu 1: C. NEUHAUS, IKZ 23, 1933, 99-118 (Gnadenlehre) - P. DUMONT in: Irénikon 10 ff., 1933 (Ekklesiologie) - HEILER 186 ff. - Ekklesia, 1939, 55 ff. - T. TSCHIPKE, Die Menschheit Christi als Heilsorgan der Gottheit, 1940 - V. ZENKOWSKY, Das Bild vom Menschen in der Ostkirche 1951 - S. BULGAKOFF, IKZ 47, 1957, 168-200 (Kirche) - V. LOSSKY, The Mystical Theol. of the Eastern Church, London 1957 - C. ENGLERT, Eastern Churches Quarterly 12, 1958, 173-181 (westl. u. östl. Theol.) - M. J. CONGAR, Istina 6, 1959, 187-236 - M. J. GUILLOU, ebd. 33-82 (Ekklesiologie) - BECK 277 ff. (279 ff. reiche Lit.) - Die Kirchen der Welt I/1, 15 ff. 121 ff.; I/2, 7 ff. - Zu 2: J. MICHALCESCU, Thêsauros tês orthodoxias Leipzig 1904 (Zusammenstellung der orth. »Bekenntnisschriften«; Lit.) - CHR. ANDROUTSOS, Dogmatik der orth. Ostkirche, (1907) 1956 (griech.) - L. MÜLLER, Die Bedeutung der Tradition usw. (Kirche u. Kosmos, 1950, 77-97) - J. KARMIRIS, Die dogmat. u. symbol. Denkmäler der orth. kath. Kirche I. II, Athen 1952/53 (griech.).

zu 3: JANIN 259 ff. - HEILER 153 ff. - Ekklesia, 1941 - D. H. MAROT, Irénikon 32, 1959, 436-472 (Pentarchie) - BECK 60 ff. (Lit.)

Zu 4 (vgl. die Lit. zu Kirchenverfassung: III): N. MILASCH, Das Kirchenrecht der Morgenländ. Kirche, Mostar (1897) 19052 - HEILER 179 ff. - Ekklesia, 1939, 75 ff. - J. VASICA, Byzantinoslavica 12, 1951, 154-174 (Nomos im Laienprozeß) - K. MÖRSDORF, MThZ 8, 1957, 235-254 (Kirchenrecht heute) - BECK 140 ff. (Lit.). 422 ff. 598 ff. 655 ff. 786 ff. - Die Kirchen der Welt I/1, 169 ff.; I/2, 92 ff. - Zu 5: A. KARTASCHOW - E. WOLF, Die Entstehung der kaiserl. Synodalgewalt usw. (Kirche u. Kosmos, 1950, 137-168) - F. DÖLGER - A. M. SCHNEIDER, Byzanz, 1952, 93 ff. (Lit.). - A. MICHEL, Die Kaisermacht in der Ostkirche, 1959 - BECK 36 f (Lit.) - Die Kirchen der Welt I/2, 38 ff.

Zu 6: J. GOAR, Euchologion, (Paris 1647) Venedig 1730 - DACL III, 2515 f (Salbung) - DThC IX, 2317 f (Ehe); XII, 1127 f (Buße) - FR. DUNKEL, ThPQ 80, 1927, 446 f. 676 f (Sakramentenspendung) - FR. PARIS, Irénikon 7, 1930, 276-308 (Bischofsweihe) - R. P. E. MERCENIER - FR. PARIS, La prière des églises de rite byz. I-II/2, (1937) 1948-532 - HEILER 239 ff. (Sakramente) - B. WELTE, Die postbaptismale Salbung, 1939 - S. BRÜCKMANN, Das Sakrament der Ehe usw., 1940 - J. RABAU, L'éveque, grand-pretre du culte liturgique (Collect. Mechlinensia 32, 1947, 16-27) - C.-J. DUMONT, Vie spirituelle 32, 1950, 584-594 (Taufe) - M. SIOTIS in: ThAthen 20-22, 1949-51 (Verhältnis von klass. u. christl. Cheirotonie) - E. D. THEODOROS, ebd. 25, 1954, 430-469. 576-601; 26, 1955, 57-76 (Cheirotonie u. - thesie) - DDC V, 725 ff. (letzte Ölung) - K. WINOGRADOW, IKZ 44, 1954, 158-172 (Buße) - B. SCHULTZE, Eucharistie u. Kirche in der russ. Theol. der Gegenwart (ZKTh 77, 1955, 257-300) - A. RAES, Mélanges Mgr. Andrieu, 1956, 365-372 (Buße) - DERS., Le mariage usw. (Coll. Irénikon), 1958 - I.-H. DALMAIS, Maison-Dieu 50. 1957, 58-69 (Ehe) - BECK 67 f. 98 f. 246 ff. 282 f u. ö. (Lit.) - Die Kirchen der Welt I/1, 157

Zu 7 (vgl. die Lit. zu Mönchtum: II, Rußland: I): HEILER 365 ff. - Ekklesia, 1939, 100 ff. - MULERT-SCHOTT 125 ff. - BECK 120 ff. (Lit.) - Die Kirchen der Welt I/2, 70 ff.

Zu 8: H. DELEHAYE, Les légendes hagiographiques, Brüssel (1905) 19554 - V. J. MANSIKKA, Die Religion der Ostslawen I, 1922 - I. HAUSHERR, Les grands courants de la spiritualité orientale (OrChrP 1, 1935, 114-138) - E. BENZ, Hl. Narrheit (Kyrios 3, 1938, 1-55) - P. PEETERS, Orient et Byzance. Le tréfonds oriental de l'hagiographie byz., Brüssel 1950 - La prière de Jésus (Coll. Irénikon, NS 4), (1951) 19593 - DÖLGER-SCHNEIDER (s. 5) 163 ff. (Lit.) - F. SCHULTZE, Unters.en über das Jesusgebet (OrChrP 18, 1952, 319-343) - K. ONASCH, Paraskeva-Studien (Ostkirchl. Studien 6, 1957, 121 bis 141) - BECK 140 Anm. 2 (Lit. zum Salos). 364 f (Gebet, Lit.) - Die Kirchen der Welt I/1, 175 ff.; I/2, 49 ff.

Zu 9: I. SALOMIES, Der hallesche Pietismus in Rußland z. Z. Peters d. Gr., 1936 - J. KARMIRIS, Orthodoxie u. Protestantismus I, Athen 1937 (griech.) - Ekklesia, 1939, 114 ff. - E. BENZ, Wittenberg u. Byzanz, 1949 - DERS., Die Ostkirche im Lichte der prot. Geschichtsschreibung, 1952 - DERS. in: Festschr. f. D. Cizevskij, 1954, 76-99 (Franckekreis u. die Ostslawen) - W. DELIUS, Der Protestantismus u. die russ.- orth. Kirche, 1949 - L. MÜLLER, Russ. Geist u. ev. Christentum, 1951 - DERS., Die Kritik des Protestantismus in der russ. Theol. vom 16.-18. Jh. (AAMz 1951, 1) - Ev. u. orth. Christentum in Begegnung u. Auseinandersetzung, hg. v. E. BENZ u. L. ZANDER, 1952 - E. WINTER, Halle als Ausgangspunkt der dt. Rußlandkunde, 1953 - ZANANIRI 272 ff. - M. VINOGRADOV, Die Verhandlungen der Altkatholiken mit der russ. O. K. zur Frage der Vereinigung (ZMP 1954, H. 5, 47-53; russ.) - L'Eglise et les Eglises I. II, Chevetogne 1954/55 (Lit.) - JANIN 504 ff. - M. KRIEBEL, Jb.er für Gesch. Osteuropas NF 3, 1955, 50-70 (Halle u. Konstantinopel 1700-30) - DERS., ebd. 225-244 (Brüdergemeine u. Konstantinopel) - L. ZANDER, Aus dem Leben des gegenw. Protestantismus (Pravoslavnaja Mysl' 10, 1955, 33-44; russ.) - MULERT-SCHOTT 174 ff. (K. MINKNER) - ZMP 1956, H. 6, 62-66; H. 9, 24-37; H. 10, 38-43 (russ.; zur Konferenz mit den Anglikanern) - W. SCHNURLA, St. Vladimir's Seminary Quarterly 1, 1957, 7-22 (über dies. Konferenz) - Eastern Churches Quarterly 12, 1958, 203-207 (desgl.) - E. SCHLINK, Wandlungen im prot. Verständnis der Ostkirche (ÖR 6, 1957, 153 bis 164) - H. SCHAEDER, Grundprobleme des ev.-orth. Gespräches (ebd. 23-43) - DIES., Ökumenische Zerreißproben (ZdZ 12, 1958, 52-57) - A. SALAC, Constantinople et Prague 1452 (Ceskeslov. Akad. Ved., Rocnik 68), 1958 (vgl. Berliner Byzantinist. Arbeiten 9, 1957, 48-53) - Wort u. Mysterium, hg. v. Außenamt der EKD, 1958 - W. KAHLE, Die Begegnung d. balt. Protestantismus mit d. russ.-orth. Kirche, 1959 - L. A. ZANDER, Einheit ohne Vereinigung, 1959 - Die Kirchen der Welt I/2, 117 ff.

K. Onasch

III. In der Emigration

Nach dem 1. wie in und nach dem 2. Weltkrieg sind mehrere Millionen osteuropäischer, insbesondere russ. und ukrainischer Emigranten durch Westeuropa gezogen. Ein großer Teil fand in den USA, Kanada, Australien und sonst in Übersee eine neue Heimat. Einige Millionen sind teils freiwillig, teils auf Grund der Alliierten-Beschlüsse von Jalta (Jan. 1945) in die Sowjetunion zurückgekehrt. Einige Zehntausende blieben in der BRD oder in Frankreich, kleinere Gruppen in den umliegenden Ländern. Während sich die ältere Emigration um die russ. Kapellen in den Residenzen, Kurorten, Handels- und Universitätsstädten sammelte, lebte die Mehrzahl der zweiten Emigration in den DP-Lagern (»Displaced Persons«) Westdeutschlands, wo sie bis 1950 mit Einschluß ihrer Geistlichen durch die von der UNO finanzierte »Internationale Flüchtlings-Organisation« (IRO) erhalten wurden. 1958 übernahm der international zusammengesetzte Ökumenische Ausschuß für orth. Priester die Besoldung und Unterstützung der orth. Exilgeistlichkeit. Neben den großen russ. und ukrainischen Gruppen stehen die zahlenmäßig kleinen orth. Gemeinden der Serben, Rumänen, Georgier, Polen, Letten, Esten.

Die meisten orth. Christen der älteren Emigration waren schon in den 20er Jahren je nach ihrer Einstellung zur Russ. Orth. Heimatkirche (ROK) in der Sowjetunion in kirchliche Gruppen zerfallen. Bischof Eulogius war von der südruss. Kirchenleitung bereits im Okt. 1920 zum Leiter der ROK in Westeuropa bestimmt und wurde 1921 von Patriarch Tychon bestätigt. Die seit 1917 betriebene ukrainische kirchliche Unabhängigkeitsbewegung wurde von der ROK nicht anerkannt. - Eine in Karlowitz (Serbien) im Nov. 1921 konstituierte »Bischofssynode der Russ. Auslandskirche« wurde, da sie an dem antibolschewistischen, zaristischen Prinzip grundsätzlich festhielt, vom Patriarchen suspendiert (5. 5. 1922). Er beauftragte Metropolit Eulogius von Paris aufs neue mit dem Aufbau der russ. Auslandskirche; dieser wurde aber von der »Karlowitzer« Synodalkirche nicht anerkannt. 1944 übersiedelte das Haupt der »Karlowitzer«, Metropolit Anastasius, aus Serbien nach München, 1950 nach Kloster Jordanville bei New York. Der New Yorker Bischofssynode sind angeschlossen die Eparchien (d.i. Diözesen) von Deutschland, Österreich, Westeuropa-Paris, Nordamerika-Kanada und Südamerika (in Amerika 55.000 Glieder in 81 Gemeinden), Australien, ferner Einzelgemeinden in Afrika und Vorderasien. - Während die Bischöfliche oder »Anastasius«-Kirche zwar die »Orth. Patriarchen« in ihrer Fürbitte erwähnt, ohne einem von ihnen zu unterstehen, unterstellte sich die sog. Eulogius-Kirche, der bes. die russ. liberale Intelligenz angehört, mit 75 Gemeinden in Frankreich, Belgien und Deutschland 1931 der Jurisdiktion des ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel. - Die Diözese des russ. orth. Bischofs »von Berlin und Deutschland (Anastasiuskirche)« erlangte durch Verordnung des Preußischen Staatsministeriums vom 14. 3. 1936 die Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechts. - Nach 1945 wurden von den meisten Ländern der BRD die Körperschaftsrechte der Münchner russ. orth. Diözese anerkannt; die Zugehörigkeit einiger westdeutscher Gemeinden zur Pariser Kirchenleitung war praktisch erloschen. Die Gemeinden von Groß-Berlin und der DDR unterstellten sich dem Patriarchat Moskau, - Zentrum der russ.-orth. Emigration wurde das auf Initiative des Metropoliten Eulogius 1925 gegründete St. Sergius-Intistitut in Paris, das in 25 Jahren über 100 orth. Priester ausgebildet hat. Das Institut hat große Verdienste um die zwischenkirchliche Verständigung und stellte der ökumenischen Bewegung einige führende Köpfe: S. N. Bulgakow, Florovsky, Zander und A. W. Kartaschow († 1960; vgl. WKL 655). Eine innermissionarische Sammlungsarbeit leistete die Anfang des 20. Jh.s gegründete und 1923 in Prag neu konstituierte Russ. Christliche Studentenbewegung (vgl. WKL 1277). Sie wurde 1935 korrespondierendes Mitglied des Christlichen Studentenweltbundes (Studentenverbände, 2) und arbeitet in der ökumenischen Bewegung mit. Dagegen hat die Bischöfliche Anastasius-Kirche 1938 und 1954 eine solche Mitarbeit abgelehnt.

Von den Emigrantenkirchen sind als orth. Diasporakirchen die große Griechische sowie die Russ. Orth. Kirche von Nordamerika (je etwa 1 Mill.) und die als zweite Staatskirche anerkannte Finnische Orth. Kirche (80.000; 2% der finnischen Staatsbürger) zu unterscheiden. Sie stehen sämtlich in liturgischer Gebetsgemeinschaft mit allen Patriarchaten einschließlich des Patriarchats Moskau. Dieses hat seinerseits nach 1945 Exarchate in der Tschechoslowakei (später autonom geworden - mit Anschluß der dortigen Emigrantengemeinden), Westeuropa-Paris, Amerika und (1960) Mitteleuropa-Berlin eingerichtet.

J. LAGOWSKY, Die ROK seit 1917 (Evangelium u. Osten 9, 1938, H. 6 ff.) - W. HAUGG, Materialien zur Gesch. d. östlich-orth. Kirche in Deutschland (Kyrios 5, 1940/41, 288-305) - Metropolit EULOGIUS, Mein Lebensweg, hg. v. T. MANUCHINA, Paris 1947 (russ.; wertvolle zeitgesch. Quelle) - Patriarch Sergius u. sein geistl. Erbe, Moskau 1947 (russ.; dt. verkürzte Übers. 1952) - H. SCHAEDER, Die Orth. Kirche d. Ostens (KJ 76, 1949, 198-356; 83, 1956, 256-331) - D. H. LOWRIE, St. Sergius in Paris, London 1954 - H. M. BIEDERMANN OESA, Die ostkirchl. Gemeinschaften in USA u. Kanada, 1954.

Hildegard Schaeder

IV. Mission der Orthodoxen Kirche

Die Orthodoxie des Oströmischen Reiches, durch Perser, Araber und die römischen Jurisdiktionsgrenzen von Missionsmöglichkeiten abgeschnitten, leitete im 9. Jh. die Slawen-Mission ein (Konstantin und Methodius), die über Korsun und Kiew ins neuentwickelte russ. Staatswesen getragen wurde. Diese Missionsbewegung setzte sich zu den karelischen Finnen (Valamo 992, eine Legende?), den Wotjaken und Tscheremissen (Mönch Abraham, 12. Jh.) und den Tschuden (23 Mönche im 13. Jh.) fort und nahm mit der Belebung des Klosterwesens Mitte des 14. Jh.s neuen Aufschwung (Stefan von Perm unter den Syrjanen, Bekehrung der Lappen am Onega-See). Erst als Rußland (: I) nach der Vernichtung Ostroms (1453) das tolerante Verhältnis zum Islam aufgab und den Geschichtsauftrag von Byzanz (: II) übernahm, zeigte sich eine organisierte Missionstätigkeit. Der Kriegszug Iwans IV. gegen das Tatarenkhanat Kasan 1542 stand im Zeichen des Hl. Krieges. Seit der Christianisierung dieses Gebietes war die Beimischung staatlichen Zwangs in der orth. Missionsarbeit bemerkbar. Nachdem der Kosakenhetman Ermak Timofejev 1582 den sibirischen Raum bewältigt hatte, war hier eine Missionsaufgabe gestellt, die Peter d. Gr., von Leibniz beraten, mit dem Ukas vom 18. 7. 1700 aufgriff. Metropolit Filofej Lescinskij, der »Apostel Sibiriens«, bekehrte in 20 Jahren 40.000 Ostjaken, Wogulen, Tataren und Tungusen und errichtete 1727 das Bistum Irkutsk.

1794 folgten Mönche aus Valamo als erste Missionare den russ. Pelzhändlern in das russisch besetzte Alaska. 1823 brach Innokentij Venjaminov (1797-1879), der größte russ. Missionar, von Irkutsk zu den Aleuten auf. Sein dortiger Erfolg trieb ihn, 1829 das amerikanische Festland aufzusuchen.

Die China-Mission, seit 1858 durch Staatsvertrag von der politischen Mission getrennt, baute seit 1896 unter Innokentij Figurovskij Kapellen und Schulen. Im Dez. 1945 erkannte Bischof Viktor von Peking den Moskauer Patriarchen an. Symeon Du wurde als erster Chinese zum Bischof geweiht. Nach Vertreibung der westlichen Missionare aus China gewann die Moskauer Mission, sich der Nationalisierung anpassend, erhöhte Bedeutung. Die Mission in Japan (: IV, 2 c), die unter Bischof Nikolaj und dem späteren Patriarchen Sergij Stragorodskij aufgeblüht war, erhielt 1946 auf Antrag McArthurs einen russ. Hierarchen aus USA, Bischof Venjamin aus Pittsburg. In ihren 200 Gemeinden dienen Japaner.

In den Vorderen Orient wurde die russ. Mission durch den Hilferuf der von der kath. Unionsinitiative bedrängten nonchalcedonensischen Kirchen gezogen. 1847 trat die Russ. Geistliche Mission in Jerusalem rivalisierend auf den Plan. Hilfsersuchen, die jakobitische Hierarchen in der Russ. Gesandtschaft Konstantinopel vortrugen (1844 Patriarch Jakob II., 1851 Metropolit Peter von Damaskus), führten zu dem Auftrag an Archimandrit Sofonij (seit 1858 Geistliche Mission Jerusalem), die Vereinigung der Jakobiten mit der Orthodoxie vorzubereiten. 1859 wurden die nestorianisch-russ. Beziehungen aufgenommen. Die russ. Mission am Urmiah-See inmitten der nestorianischen Dörfer Persiens führte 1898 zu einem Einigungsakt in St. Petersburg. Auch in Siam und Indien wirkten russ. Missionare. 1923 gingen Valamomönche aus Finnland nach Marokko und begründeten eine so erfolgreiche Mission, daß man heute an die Stiftung einer finnisch-russ. Missionsgesellschaft denkt.

Die Pflege der Missionswissenschaft oblag im Zarenreich der Geistlichen Akademie Kasan. Durch Venjaminov war 1870 eine orth. Missionsgesellschaft in Moskau gegründet worden (Missionsfeste am Sonntag der Orthodoxie). In Spannung dazu faßte der Hl. Dirigierende Synod in Petersburg in der Abteilung »Mission« die verschiedensten politischen Tätigkeiten zusammen: den Kampf mit Sekten, Altgläubigen und atheistischer Intelligenz, die Abwehr der Polonisierung und Katholisierung in Weißrußland, die Konversion und Russifizierung der Baltenvölker ebenso wie die Durchdringung des heidnischen sibirischen Raums und die »Äußere« Mission Auslandsmaßnahmen wurden durchs Außenministerium veranlaßt. Die Missionskonferenz 1911 in Kiew offenbarte Kräfte, die die staatliche Lenkung sprengen wollten.

Eine neue Bewegung geht von Griechenland aus. 1958 rief die internationale orth. Jugendbewegung »Syndesmos« ein Exekutivkomitee für Welt-Mission (Athen) ins Leben. Ziel ist die Gründung einer pan- orth. Missionsgesellschaft unter Mitarbeit z. B. der orth. Kirche in Uganda.

K. LÜBECK, Die russ. Missionen, 1922 - J. GEORGIJEVSKIJ, Der Weg meines Lebens, 1947, 202 ff. (russ.) - J. GLAZIK, Die russ.-orth. Heiden-Mission seit Peter d. Gr., 1954 (russ. Lit.) - DERS., Die Islam- Mission der russ.-orth. Kirche, 1959 - I. SMOLITSCH, Zur Gesch. der Beziehungen zw. der russ. Kirche u. dem orth. Osten (Ostkirchl. Studien 5, 1956, 33 bis 51. 89-136) - F. HEYER, Die Beziehungen der russ. Orthodoxie zu den »häretischen« Kirchen des Vorderen Orients (Jb.er für Gesch. Osteuropas NF 4, 1956, 387-397) - E. BENZ, Geist u. Leben der Ostkirche, 1957, 89 ff.

F. Heyer






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zuletzt aktualisiert am 13.09.2016
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Die Religion in Geschichte und Gegenwart: Artikel
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