Bernhard von Clairvaux
an Papst Eugen III.: Betrachtungen (Auszüge)
Der Stress und seine Folgen - Schmerz oder Gewöhnung?
Wo soll ich anfangen? Am besten bei Deinen zahlreichen Beschäftigungen, denn ihretwegen habe ich am meisten Mitleid mit Dir. Ich kann allerdings nur Mitleid mit Dir haben, wenn Du selbst Leid empfindest. Sonst müsste ich richtiger sagen, dass es mir um Dich leid tut. Denn wo einer kein Leid empfindet, kann man auch nicht mitleiden. Wenn Du also leidest, dann empfinde ich Mitleid mit Dir; wenn nicht, tust Du mir dennoch leid, ja dann erst recht, denn ich weiß, dass ein Glied, das nichts mehr empfindet, schon ziemlich weit weg vom Heilsein ist, und dass ein Kranker, der gar nichts mehr von seinem Kranksein spürt, in Lebensgefahr schwebt.
Verlass Dich nicht zu sehr auf das, was Du im Augenblick empfindest.
Es gibt in unserem Geist nichts, was sich nicht durch Nachlässigkeit
und Zeitverstreichen abschleift. Über eine alte Wunde, die man
vernachlässigt, wächst ein Schorf, und je weniger man sie noch
spürt, desto unheilbarer wird sie. Und einen ständigen heftigen
Schmerz kann man nicht tagtäglich aushalten. Lässt er sich nicht
irgendwie tilgen, so spürt man ihn allmählich weniger. Entweder
erhält er rasch Linderung von einem Heilmittel, oder er stumpft
im Laufe der Zeit ab. Gibt es etwas, was die Gewohnheit nicht
verkehrt? Was durch ständiges Andauern nicht hart wird? Was sich
durch Gebrauch nicht verschleißt? Wie oft ist uns schon etwas,
vor dessen Bitterkeit wir zunächst zurückschreckten, durch den
bloßen Gebrauch allmählich vom Schlechten ins Süße verwandelt
worden? Höre den Gerechten, wie er über eine solche Erfahrung klagt:
Das, was meine Seele früher nicht anrühren wollte, ist mir jetzt
in meiner Bedrängnis zur Nahrung geworden
(Hiob 6, 7). Zunächst
kommt Dir etwas unerträglich vor. Im Laufe der Zeit gewöhnst Du
Dich vielleicht daran und hältst es nicht mehr für so schwer; es
dauert nicht lange, und es kommt Dir leicht vor; es vergeht nicht
viel weitere Zeit, und es sagt Dir sogar zu. So verhärtet man
allmählich Schritt für Schritt sein Herz, und auf die Verhärtung
folgt die Abneigung. Ja, so geht es: ein schwerer und ständiger
Schmerz drängt auf einen raschen Ausweg: entweder auf die Gesundheit
oder auf die Empfindungslosigkeit.
Das harte Herz
Aus diesem, eben diesem Grund lebe ich in ständiger Sorge um Dich. Ich fürchte, Du hast kein Heilmittel und könntest den Schmerz nicht aushalten und Dich deshalb verzweifelt in eine Gefahr stürzen, der kaum mehr zu entkommen wäre. Ich fürchte, sage ich, dass Du, eingekeilt in Deine zahlreichen Beschäftigungen, keinen Ausweg mehr siehst und deshalb Deine Stirn verhärtest; dass Du Dich nach und nach des Gespürs für einen durchaus richtigen und heilsamen Schmerz entledigst. Es ist viel klüger, Du entziehst Dich von Zeit zu Zeit Deinen Beschäftigungen, als dass sie Dich ziehen und Dich nach und nach an einen Punkt führen, an dem Du nicht landen willst. Du fragst, an welchen Punkt? An den Punkt, wo das Herz hart wird. Frage nicht weiter, was damit gemeint sei; wenn Du jetzt nicht erschrickst, ist Dein Herz schon so weit.
Das harte Herz ist allein; es ist sich selbst nicht zuwider, weil es sich selbst nicht spürt. Was fragst Du mich? Frage den Pharao (2. Mose 7, 13 u. a.). Keiner mit hartem Herzen hat jemals das Heil erlangt, es sei denn, Gott habe sich seiner erbarmt und ihm, wie der Prophet sagt, sein Herz aus Stein weggenommen und ihm ein Herz aus Fleisch gegeben (2. Mose 36, 26).
Was ist also ein hartes Herz? Das ist ein Herz, welches sich weder von Reue zerreißen, noch durch Zuneigung erweichen, noch durch Bitten bewegen lässt. Es lässt sich von Drohungen nicht beeindrucken, es wird durch Schläge nur noch härter. Gegenüber Wohltaten ist es undankbar, Ratschläge nimmt es nicht an, über klare Entscheidungen wird es wütend, vor Schimpflichem scheut es sich nicht, Gefahren nimmt es nicht wahr; es hat kein Gespür für menschliches Verhalten, ist Gott gegenüber gleichgültig, verliert die Vergangenheit aus dem Bewusstsein, lebt unachtsam in der Gegenwart, schaut nicht voraus in die Zukunft. Für das harte Herz gibt es nichts Erinnerungswertes, außer zugefügte Beleidigungen, nichts Wichtiges in der Gegenwart, nichts in der Zukunft, wonach es ausschauen oder worauf es sich vorbereiten könnte, es sei denn, dass es irgendeinen Racheakt im Schilde führe. Um kurz und knapp alle Übel dieser schrecklichen Krankheit auf einen Nenner zu bringen: einem harten Herzen ist die Gottesfurcht und das Gespür für die Menschen abhanden gekommen.
Schau, dahin ziehen Dich diese verfluchten Beschäftigungen, wenn Du so wie bisher weitermachst und Dich ihnen völlig auslieferst, ohne Dir etwas für Dich vorzubehalten. Du vergeudest Zeit und - wenn ich mir erlauben darf, für Dich ein zweiter Jitro zu sein (vgl. 2. Mose 18, 17 - 18) - Du verausgabst Dich selbst in ihnen in sinnloser Mühe, die nur den Geist versehrt, das Herz aushöhlt und die Gnade verpuffen lässt. Denn was sind die Früchte von all dem? Sind es nicht bloße Spinnweben?
Selbstbesinnung
Wenn Du Dein ganzes Leben und Erleben völlig ins Tätigsein
verlegst und keinen Raum mehr für die Besinnung vorsiehst,
soll ich Dich da loben? Darin lobe ich Dich nicht. Ich glaube,
niemand wird Dich loben, der das Wort Salomos kennt: Wer
seine Tätigkeit einschränkt, erlangt Weisheit
(Jesus
Sirach 38, 25). Und bestimmt ist es der Tätigkeit selbst
nicht förderlich, wenn ihr nicht die Besinnung vorausgeht.
Wenn Du ganz und gar für alle da sein willst, nach dem
Beispiel dessen, der allen alles geworden ist (1. Korinther 9, 22),
lobe ich Deine Menschlichkeit - aber nur, wenn sie voll und
echt ist. Wie kannst Du aber voll und echt Mensch sein, wenn
Du Dich selbst verloren hast? Auch Du bist ein Mensch. Damit
Deine Menschlichkeit allumfassend und vollkommen sein kann,
musst Du also nicht nur für alle ändern, sondern auch für
Dich selbst ein aufmerksames Herz haben. Denn was würde es
Dir sonst nützen, wenn Du - nach dem Wort des Herrn (Matthäus
16, 26) - alle gewinnen, aber als einzigen Dich selbst verlieren
würdest? Wenn also alle Menschen ein Recht auf Dich haben,
dann sei auch Du selbst ein Mensch, der ein Recht auf sich
selbst hat. Warum solltest einzig Du selbst nichts von Dir
haben? Wie lange bist Du noch ein Geist, der auszieht und
nie wieder heimkehrt (Psalm 78, 39)? Wie lange noch schenkst
Du allen andern Deine Aufmerksamkeit, nur nicht Dir selber?
Du fühlst Dich Weisen und Narren verpflichtet und verkennst
einzig Dir selbst gegenüber Deine Verpflichtung? Narr und
Weiser, Knecht und Freier, Reicher und Armer, Mann und Frau,
Greis und junger Mann, Kleriker und Laie, Gerechter und
Gottloser - alle schöpfen aus Deinem Herzen wie aus einem
öffentlichen Brunnen, und Du selbst stehst durstig abseits?
Wenn schon der Verdammnis verfällt, wer seinen Anteil schrumpfen
lässt: was geschieht erst mit dem, der ihn sich ganz aus
den Händen nehmen lässt? Lass ruhig Deine Wasser über die
Plätze fließen (Sprüche 5, 16): Menschen und Rinder und
alles Vieh mögen von ihnen trinken, und meinetwegen kannst
Du sogar die Kamele des Knechtes Abrahams tränken (1. Mose 24,
14); aber mit ihnen allen trinke auch Du vom Wasser Deines
Brunnens. Ein Fremder soll nicht aus ihm trinken
,
heißt es (Sprüche 5, 15). Bist Du etwa Dir selbst ein Fremder?
Und bist Du nicht jedem fremd, wenn Du Dir selber fremd bist?
Ja, wer mit sich selbst schlecht umgeht, wem kann der gut sein?
Denk also daran: Gönne Dich Dir selbst. Ich sage nicht: tu
das immer, ich sage nicht: tu das oft, aber ich sage: tu es
immer wieder einmal. Sei wie für alle anderen auch für Dich
selbst da, oder jedenfalls sei es nach allen anderen.
Sich Zeit nehmen für das Nachdenken
Du fragst, was das sei: pietas
(Andacht). Sich
Zeit nehmen für das Nachdenken.
Du sagst vielleicht, ich stimmte damit nicht mit dem überein,
der pietatis
als Gottesverehrung
definiert hat (Hiob 28,
28, nach einer alten Version). Das ist nicht wahr. Wenn Du gut
nachdenkst, habe ich mit eigenen Worten das gleiche gesagt,
was er meint, wenn auch unter einem bestimmten Gesichtspunkt.
Denn was ist wesentlicher für den Gottesdienst als das, wozu
Gott selbst im Psalm ermahnt: Nehmt euch Zeit und seht, dass
ich Gott bin
(Psalm 46, 11)? Und das ist doch das wichtigste
beim Nachdenken.
Zunächst denke darüber nach, was ich mit dem Nachdenken meine. Ich möchte das Nachdenken nicht in jeder Hinsicht mit der Kontempiation gleichsetzen, denn die Kontemplation erfasst die Gewissheit der Dinge, während das Nachdenken ihnen eher nachgeht, um diese Fähigkeit zu erwerben. In diesem Sinn kann man Kontemplation definieren als den wahren und von Gewissheit getragenen Blick des Geistes auf das Wesen jedes Dinges, oder als zweifelsfreies Erfassen des Wahren. Das Nachdenken aber ist ein angestrengtes Denken auf der Spur dazu hin, oder die Konzentration des Geistes auf der Spurensuche nach dem Wahren. Im allgemeinen Sprachgebrauch werden allerdings beide Begriffe synonym gebraucht.
Der Weg der Rückkehr zu Gott
Fange damit an, dass Du über Dich selbst nachdenkst, damit Du Dich nicht selbstvergessen nach anderem ausstreckst. Was nützt es Dir, wenn Du die ganze Welt gewinnst und einzig Dich verlierst? Denn wärest Du auch weise, so würde Dir doch etwas zur Weisheit fehlen, solange Du Dich nicht selbst in der Hand hast. Wieviel Dir fehlen würde? Meiner Ansicht nach alles. Du könntest alle Geheimnisse kennen, Du könntest die Weiten der Erde kennen, die Höhen des Himmels, die Tiefen des Meeres: wenn Du Dich selbst nicht kennen würdest, glichest Du jemandem, der ein Gebäude ohne Fundament aufrichtet; der eine Ruine, kein Bauwerk aufstellt. Alles, was Du außerhalb Deiner selbst aufbaust, wird wie ein Staubhaufen sein, der jedem Wind preisgegeben ist.
Keiner ist also weise, der nicht über sich selbst Bescheid weiß. Ein Weiser muss zunächst in Weisheit sich selbst kennen und als erster aus seinem eigenen Brunnen Wasser trinken. Fang also damit an, über Dich selbst nachzudenken, und nicht nur dies: lass Dein Nachdenken auch bei Dir selbst zum Abschluss kommen. Wohin Deine Gedanken auch schweifen mögen, rufe sie zu Dir selbst zurück, und Du erntest Früchte des Heils. Sei Du für Dich der erste und der letzte Gegenstand des Nachdenkens.
Nimm Dir als Beispiel den höchsten Vater aller, der sein Wort
aussendet und zugleich bei sich behält. Dein Wort, das ist Dein
Nachdenken. Wenn es sich auf den Weg macht, soll es sich nicht
ganz von Dir lösen. Es soll so vorgehen, dass es nicht ganz
abschweift; es soll so in die Ferne ziehen, dass es Dich nicht
im Stich lässt. Wenn es um Dein Heil geht, hast Du keinen besseren
Bruder als Dich selbst. Verschließe Dich vor allen Gedanken, die
gegen Dein Heil sind. Was sage ich: gegen
? Ich hätte besser
sagen sollen: die abseits von Deinem Heil liegen. Was immer sich
Deinen Gedanken anbietet: weise es zurück, wenn es nicht auf
irgendeine Weise mit Deinem Heil zu tun hat.
Was ist der Mensch?
Denk darüber nach, in welchem Zustand Du geboren bist. Nimm die Verhüllung weg, die Du von Deinen Stammeltern geerbt hast und die von Anfang an ein Zeichen des Fluches war. Zerreiss den Lendenschurz aus Feigenblättern, der nur Deine Schande verhüllt, aber Deine Wunde nicht heilt. Trag die Schminke dieser flüchtigen Ehre ab, den schlecht gemalten Glanz von Herrlichkeit, und denke nackt über Dich Nackten nach; denn nackt bist Du aus dem Schoß Deiner Mutter herausgekommen. Du trägst die Mitra? Du glitzerst von Edelsteinen, prangst in Seide, bist mit Federn geschmückt, mit kostbaren Metallen gespickt? Wenn Du beim Nachdenken all das wie Morgengewölk zerstreust und von Deinen Augen wegbläst; wenn Du siehst, wie rasch das vorübergeht und wie schnell es vorbei ist, was tritt dann zutage? Der nackte, arme, erbärmliche und erbarmungswürdige Mensch. Der Mensch, der darunter leidet, ein Mensch zu sein; der sich schämt, nackt zu sein; der bedauert, geboren worden zu sein; der gegen seine Existenz aufbegehrt; der Mensch, der für die Mühsal, nicht für die Ehre geboren ist; der nur kurze Zeit lebt und deshalb mit Angst; der mit viel Erbärmlichkeiten behaftet ist, und deshalb mit viel Grund zur Klage. Vieles an ihm ist tatsächlich erbärmlich, denn sowohl sein Leib als auch seine Seele sind angeschlagen. Wo wäre nicht ein Defekt bei einem, der in Sünde geboren ist, gebrechlich dem Leib und unfruchtbar dem Geist nach?
Das ist eine heilsame Verbindung, wenn Du daran denkst, dass Du der höchste Bischof bist und zugleich die jämmerlichste Asche nicht nur warst, sondern immer noch bist.
Die Beugung der Höhe
Dein Denken gleiche sich Deiner Natur an. Es gleiche sich, was noch angemessener ist, dem Urheber Deiner Natur an. So verbindet es Höchstes und Niedrigstes. Hat nicht die Natur in der Person des Menschen wertlosen Lehm mit lebendigem Odem verbunden? Hat nicht der Urheber der Natur in seiner Person das Wort und den Lehm miteinander verschmolzen?
So halte Dir für Deine Selbsteinschätzung gleichzeitig vor Augen, woher wir in Wirklichkeit stammen, und wie geheimnisvoll wir erlöst sind. Dann sitzt Du auf der Höhe und bist doch nicht hochfahrenden Geistes; dann beugst Du Dich in Deinem Denken nieder und weißt Dich eins mit den Gebeugten.
Paul Geißendörfer: Komme zu dir selbst. Evang. Buchhilfe e.V., Vellmar 1990
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