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Heiligenverehrung
Die Acten der heiligen Martyrer und Bekenner Jesu Christi 1
3. In den ersten drei Jahrhunderten wurden die Christen von den Herrschern der Welt als öffentliche Verbrecher angesehen, und der Name »Christ« war hinreichend, die Person den grausamsten Peinen und dem Tode Preis zu geben. Jeder Statthalter oder Richter hielt sich für befugt, die Christen überall, wo er sie nur antraf, mit Feuer und Schwert zu verfolgen, den wilden Thieren vorzuwerfen, an's Kreuz zu schlagen oder auf eine andere ihm beliebige grausame Art zu tödten. Tertullian und die übrigen Apologisten entwerfen ein schauderhaftes Bild von den Christenverfolgungen und den unmenschlichen Todesarten, welche im Laufe derselben angewendet wurden. Dabei war die gerichtliche Procedur zwar manchmal ziemlich ausführlich, öfters aber ganz einfach und summarisch; denn das einfache Bekenntniß: »Ich bin ein Christ« galt in den meisten Fällen als hinreichende Ursache schneller oder langsamer Todesvollziehung. Die bei diesen Gerichten gepflogenen Verhandlungen nun, die Fragen der Richter und die Antworten der Christen, dann der Ausspruch des Urtheils, wurden kurz von dem Gerichtschreiber aufgefaßt oder von den gegenwärtigen Zeugen schriftlich aufgezeichnet. Diese Protokolle oder Register nennt man die »Martyrer-Acten« (Acta Martyrum), welche Benennung dann später auch auf die Lebensgeschichten der hhl. Bekenner und Jungfrauen, die nicht gemartert wurden, überging, weßhalb diese Lebensbeschreibungen schlechtweg Acta Sanctorum genannt werden, ohne daß ihnen in allen Fällen ein richterliches Gepräge oder der Charakter von öffentlichen Schriften zukäme.
4. Es läßt sich denken, daß die Christen sich sehnten, schriftliche Nachrichten über das heldenmäßige Bekenntniß und heilige Ende ihrer Martyrer zu besitzen. Sie bestrebten sich daher, Alles niederzuschreiben, was in den gerichtlichen Verhandlungen, im Kerker und auf dem Kampf- oder Marterplatze vorgefallen war. Unter dem Beifall der Bischöfe erkauften sie mit schwerem Gelde die von den öffentlichen Notaren verfaßten Protokolle. Zuweilen boten die Notare den Christen die Abschriften dieser Protokolle selbst zum Kaufe an, oder brachten, wenn sie geheime Christen waren, den Priestern und Bischöfen dieselben als kostbare Geschenke dar, wie wir ein Beispiel an dem hl. Genesius von Arles haben, von dem die Bollandisten am 25. August handeln. Sehr oft drangen die Christen selbst unter der großen Volksmenge bis in die Gerichtsstuben, um zu sehen und zu hören, was vorging, und das Vorgefallene Anderen mündlich oder schriftlich mittheilen zu können. Dieß wagten sogar zarte Frauen, wie unter Andern die Acten der hl. Febronia bei den Bollandisten am 25. Juni darthun.
5. Noch eine andere Weise der Entstehung der Acten war mitunter in Geltung. Die hhl. Martyrer legten bisweilen selbst ihr Bekenntniß schriftlich nieder und verfaßten im Kerker von den gerichtlichen Verhandlungen, den erlittenen Peinen und dem ersten Bekenntnisse eine kurze Geschichte, welche nachher durch die nächsten Freunde derselben vollendet wurde. So z. B. kommen die Acten der hhl. Perpetua und Felicitas größtentheils von diesen hhl. Frauen selbst, sowie von ihrem hl. Gefährten Saturus her und wurden von einem Vertrauten derselben vervollständigt. Auch der hl. Dionysius von Alexandria hinterließ zwei Briefe, worin er seine und der Freunde Leiden schildert.
id="6">6. Frühzeitig jedoch nahmen die Bischöfe und Vorsteher der Kirche das Geschäft der Abfassung der Martyrergeschichten in die Hände und regelten es, um die Gläubigen vor Irrthum zu bewahren. So hat der hl. Papst Clemens I. zu Rom einige Geheimschreiber oder Notare für gewisse Bezirke bestellt, welche das getreu aufzeichnen sollten, was täglich mit den Martyrern in den Kerkern, oder öffentlich in den Gerichtsstuben, oder auf den Kampfplätzen vorfiel. Diesen sieben Notaren setzte der Papst Fabian sieben Subdiakone vor, deren Amt es unter Anderm war, die von den Notaren verfaßten Acten durchzusehen, zu berichtigen und dann dem Oberhaupte der Kirche zur Prüfung und Genehmigung vorzulegen; die bewährt befundenen ließ der Papst in dem Kirchenarchiv aufbewahren. Hieraus erkennen wir die große Vorsicht der römischen Kirche, welcher dann andere Kirchen darin nachfolgten und sich auf alle Weise bemühten, die Martyrer-Acten von unzuverlässigen Thatsachen und Erzählungen rein zu erhalten und auf die sorgfältigste Weise aufzubewahren. Denn die geschwornen Notare schrieben sie, die bestellten Subdiakone untersuchten, durchsahen und prüften sie, und endlich genehmigte sie der Bischof unter Leitung des hei Geistes, wie Papst Pius I. in seinem Brief sich ausdrückt. 2 Die nämliche Vorsicht beobachteten auch die andern vornehmsten Kirchen, z. B. Karthago in Afrika, Smyrna in Asien, Lyon und Vienne in Gallien, wie wir dieß aus einigen Zeugnissen ersehen, die sich erhalten haben und von den Bollandisten (Praef. Tom. I. Jan.) mitgetheilt werden. Nachdem der Bischof die Acten genehmigt hatte, ließ er sie abschreiben und diese Abschriften der Hauptkirche der Provinz oder der Patriarchalkirche, wie auch den befreundeten andern Kirchen mittheilen, damit sie die Großthaten der Gläubigen kennen lernten, die Feste der Martyrer feierlich begehen könnten und zur Nachahmung aufgemuntert würden. Heilige Ueberbleibsel dieser Kirchengemeinschaft sind die Sendschreiben der Kirche von Smyrna über den Martyrtod des hl. Polykarpus, und der Kirche von Lyon und Vienne in Gallien über die Marter des hl. Pontinus und seiner Gefährten. Weil die römische Kirche ihres mächtigen Vorrangs wegen mit allen andern Kirchen des Orients und des Occidents in Verbindung stand, so hatte sie die beste Gelegenheit, die Martyrer-Acten aus der Ferne zu erhalten. Ja sogar die Laien gingen, wie wir am hl. Martyrer Bonifacius (14. Mai) sehen, von Rom aus an jene Orte, wo die Verfolgung am stärksten wüthete, um Reliquien zu sammeln, eine Abschrift der Urtheile zu erhalten, oder einen authentischen Bericht über den Muth- und die Standhaftigkeit der Martyrer, über die Art des Todes und über die Grausamkeit der Richter und Landpfleger abstatten zu können.
7. Bollandus weist am angeführten Orte aus einigen Beispielen nach, daß schon früher die Sitte bestand, die Acten der Martyrer zur Bestätigung nach Rom zu senden. So habe der hl. Bischof Dionysius von Paris befohlen, alles, was er zu leiden habe, was bei seinem Verhöre in den Gerichtshöfen gesprochen werde, genau zu Papier zu bringen und es an das Oberhaupt der Kirche nach Rom zu schicken, und er selbst, der hl. Dionysius, habe die Acten des hl. Bischofs Eutropius von Saintes (Santonum) an den Papst geschickt. Auch noch andere Beispiele dieser Pietät gegen Rom ließen sich anführen, wir müssen sie aber der Kürze halber übergehen und dabei einfach auf unsere Quelle verweisen. Jetzt ist überhaupt die Anordnung getroffen, daß ein Martyrer nicht eher als solcher in der Kirche anerkannt und verehrt werden darf, als bis sein Leben und setn Martyrium vom hl. Vater untersucht, geprüft und bestätigt worden ist. 3
8. Aber nicht nur das Leben und der Tod der hhl. Martyrer, sondern auch eine Geschichte der herrlichen Thaten Solcher, welche nach einem heil. Leben im Rufe der Heiligkeit gestorben und von Gott nach ihrem Tode durch Wunder verherrlicht worden waren, pflegte man frühzeitig schon abzufassen, und nahmen öfters die Bischöfe dieses Geschäft selbst in die Hände, indem sie rechtschaffene Männer beauftragten, eine Lebensgeschichte solcher hhl. Männer zu verfassen. Daß dieß wirklich der Fall war, zeigt eine Menge von Beispielen aus den ersten Jahrhunderten, wie sie zerstreut bei den Bollandisten sich finden.
9. Leider sind wohl die meisten solcher Acten der Martyrer und der Lebensgeschichten der Heiligen durch die Ungunst der Zeiten verloren gegangen; nur wenige sind noch vorhanden. Man kann aber mehrere Ursachen angeben, woher es komme, daß nur mehr wenige Acten, besonders der Martyrer, auf uns gelangten. Nach Ruinart sind die vorzüglichsten Ursachen folgende:
1) Die Martyrer-Acten theilen überhaupt mit andern (besonders kleinern) Schriften der ersten Zeit ein gleiches Schicksal. Wie viele Schriften sind nicht durch die Länge der Zeit verloren gegangen?! Man sieht das so recht bei dem Kirchenhistoriker Eusebius, von dem sich nicht nur manche Schrift gar nicht mehr vorfindet, sondern aus dem es auch hervorgeht, daß er manche Actenstücke zu Händen hatte, von denen wir nichts mehr wissen. Er selbst klagt aber schon, daß manches schöne Monument der Vorzeit gänzlich verschwunden und vielleicht für immer vernichtet sei.
2) Mit den Acten der Martyrer hat es außerdem noch eine besondere Bewandtniß. Mit dem Eifer, womit die Christen sie abfaßten, oder aufsuchten und verbreiteten, mit demselben Eifer suchten die Feinde der Christen sie zu vertilgen. Nachdem die Kaiser einmal in Erfahrung gebracht hatten, welchen Werth die Christen auf die Acten ihrer Martyrer legten, wodurch nicht nur das Christenthum bestätigt, sondern auch das Heidenthum beschämt, die Kaiser und Richter selbst der Grausamkeit beschuldigt wurden, wandten sie allen Fleiß an, diese Urkunden durch Feuer zu vertilgen oder doch den Händen der Christen zu entreißen. Einige Statthalter befahlen sogar, die gerichtlichen Urkunden gleich nach dem Vollzuge des Urtheils zu vernichten, damit sie der Oeffentlichkeit entzogen würden. Die ersten Christen klagen häufig über dieses Verfahren der Richter, die nicht einmal die Namen der treuen Bekenner der Nachwelt vergönnten. Dieß scheint z. B. bei den Acten des hl. Vincentius (22. Jan.) der Fall gewesen zu seyn; denn in dem, was über ihn auf uns gekommen ist, lesen wir: »Es dient wahrlich zur Vermehrung der Glorie des hl. Martyrers Vincentius, daß, nachdem seine Martern aufgeschrieben worden waren, der Feind des menschlichen Geschlechtes ihn um den Titel (eines Martyrers) beneidete. Daher haben wir eine ganz getreue Geschichte seiner Thaten entworfen, was der Richter nicht gestatten wollte, und nicht mit Unrecht fürwahr, weil er sich hätte schämen müssen, als Besiegter angesehen zu werden. Einer natürlichen Vorsicht gemäß suchen nämlich die auf dem Irrwege sich Befindenden die Zeugnisse der Rechtschaffenheit zu vertilgen.« 4 Auch Prudentius beklagt sich in dem Hymnus auf die hhl. Martyrer Emetherius und Chelidonius, daß die Acten ihres Martyrtodes vertilgt und der Nachwelt entrissen worden seien.
3) Zwar geht dieß zunächst die richterlichen Acten an; allein auch die von den Christen verfaßten waren der Nachstellung unterworfen. Die Heiden wußten, wie hoch sie von den Gläubigen geschätzt wurden; sie hatten erfahren, welche Wirkung sie hervorbrachten, wie eifrig sie in der Versammlung gelesen wurden. Ihr Augenmerk war daher auf diese ebenso, wie auf die heil. Schriften gerichtet, die sie allenthalben auf suchen und verbrennen ließen, wie Arnobius bezeugt, der (lib. contra Gent. cap. ult.) an die Heiden die Frage richtet: »Warum haben es unsere Schriften verdient, dem Feuer überliefert zu werden?« Unter Diokletian und Maximian wüthete die Verfolgung am heftigsten gegen die Bücher, deren sich die Christen bei dem öffentlichen Gottesdienste bedienten, wie Eusebius (Kirchengeschichte, VIII. B. 11. Kap.) bezeugt und unter Andern aus den Acten der hhl. Saturninus, Dativus, Agape, Chionia und Irene hervorgeht. In diesen letzten wirft der Statthalter der hl. Irene vor: »Jetzt erscheint deine Thorheit im wahren Lichte, da du so viele Rollen, so viele Bücher und Bände, so viele Blätter und Papiere von den Schriften aufbewahrest, welche alle von der Religion der Christen handeln, die von jeher bis auf diesen Tag gelebt haben.« Auch der Vandalenkönig Genserich ließ alle Bücher wegnehmen, damit den Christen, wie Victor berichtet, die Waffen entrissen würden, welche sie in ihrer Standhaftigkeit befestigten. Wer wird nun die Zahl der Acten berechnen können, die in diesen Verfolgungen eingezogen und vernichtet wurden?! Wenn man dieses reiflich erwägt, dazu noch die politischen (für literarische Werke stets nachtheiligen) Kriege der verschiedenen Länder in's Auge faßt, so muß man sich billig wundern, daß wir noch so viele ächte Martyrer-Acten besitzen, die den Verfolgungen, den Nachstellungen, den Verheerungskriegen entgangen sind und dem verzehrenden Zahne der Zeit Trotz geboten haben.
4) Ueberdieß ist es gewiß, daß nicht von allen Martyrern der christlichen Vorzeit schriftliche Urkunden verfaßt worden sind, noch verfaßt werden konnten. Einige litten zu den Zeiten, wo die Christen nicht einmal in den Höhlen und Gräbern für einen Augenblick Ruhe hatten. In solchen Bedrängnissen gehörte eine Abfassung von Acten zur Unmöglichkeit. Zuweilen waren die Verfolgungen so stürmisch, daß Mehrere auf einmal, wie in einer Feldschlacht (quasi jure belli, nach Eusebius), ohne Verhör, ohne Untersuchung, ohne Urtheil, haufenweise dahingeschlachtet, in den Kirchen verbrannt oder in der Tiefe des Meeres ersäuft wurden (vgl. Euseb. Kirchengesch. VIII. Buch, 6. und 9. Kap.). Merkwürdig ist, was dieser Schriftsteller im 6. Kap. von Christen am Hofe, die den Martyrtod erlitten haben, sagt: »Die kaiserlichen Beamten hielten für nöthig, ihre eigenen Herren, die nach dem Tode auf gebührende Weise zur Erde bestattet wurden, ausgraben und in's Meer werfen zu lassen, damit sie von Niemand, wenn sie in ordentlichen Gräbern lägen, wie sie glaubten, angebetet und vergöttert werden möchten.« Nach Lactantius wurden die Christen verschiedener Provinzen, der entlegensten Gegenden, verschiedenen Geschlechtes, Standes und Alters zusammen verbrannt, hingerichtet und in's Meer geworfen. Derselbe Schriftsteller sagt auch, wenn er hundert Zungen, hundert Lippen und eine eiserne Stimme hätte, so wäre er nicht im Stande, alle Arten der Martern, alle Namen der Qualen, womit die Christen verfolgt wurden, auszudrücken. Wenn zuweilen Einer vor Gericht geschleppt wurde, ergriff man zugleich mehrere der Umstehenden und Zuschauer, weil sie Mitleiden gezeigt und dadurch sich den Verdacht, als seien sie Christen, zugezogen hatten. Ja, selbst die Namen derselben waren nicht immer bekannt. In den Acten der hl. Fides (Tom. III. Boll. 6. Oct. pag. 289) lesen wir: »Vieler Namen kennen wir nicht, die an demselben Tage beim Anblick der Standhaftigkeit dieser Heiligen dem Götzendienste entsagten (a sacrilego daemoniorum jugo pia colla solventes), an den Herrn Jesus Christus glaubten und die herrliche Martyrkrone erlangten.« Die heidnischen Landleute, welche besonders fest am Götzendienste hielten, und die Götzenpriester griffen zu, wo sie einen Christen antrafen, und tödteten ihn. Der hl. Dionysius von Alexandria sagt von dem Lande Aegypten, welches so unendlich viele Martyrer zu Tage förderte, viele Andere seien in den Landstädten und Dörfern von den Heiden getödtet worden (Euseb. lib. II. cap. 11), und schreibt in seinem Briefe an Domitius und Didymus (bei Euseb. l. c.): »Es ist überflüssig, die Unsrigen namentlich aufzuführen, da ihrer Viele und diese dazu noch unbekannt sind. Indessen wisset, daß Männer und Weiber, Junge und Alte, Mädchen und alte Mütter, Soldaten und Bürger von verschiedenem Geschlechte und Alter, theils durch Geißel und Feuer, theils durch das Schwert im Kampfe gesiegt und die Krone empfangen haben. Wer hätte auch von all diesen Bekennern die Namen aufzeichnen und ihre Geschichte und den Martyrtod beschreiben sollen?!«
5) Zuletzt sei als Ursache, warum so wenige Martyrer-Acten auf uns gekommen, noch erwähnt, daß in den ersten Jahrhunderten die größte Zahl der Christen aus dem gemeinen Volke bestand, das weder lesen noch schreiben konnte. Bei allen Verfolgungen wurden zuerst die Bischöfe und Priester mit den übrigen Kirchendienern verhaftet, und nach diesen die Reichern und Gebildeten; sonach blieben oft nur jene übrig, welche keinen schriftlichen Aufsatz verfassen konnten.
10. Uebrigens besteht ein Unterschied unter den auf uns gekommenen Martyrer-Acten. Nach Honoratus a S. Maria 5 können dieselben in fünf Klassen eingetheilt werden:
Zur ersten Klasse gehören die eigenhändigen authentischen gerichtlichen Protokolle, Acta autographa judiciaria, oder proconsularia, praesidialia genannt, weil sie von den Richtern oder Statthaltern bei ihrer Amtsverrichtung dictirt und von den Gerichtsschreibern aufgezeichnet wurden. Sie enthalten die Fragen der Richter, die Antworten der Martyrer und den Urtheilsspruch. Auf welche Art die Gläubigen zu diesen Acten kamen, ist oben gezeigt worden; hier sei nur noch bemerkt, daß diese Acten nach glücklich bestandenen Martern von den Bischöfen oder Kirchendienern mit den nähern Umständen des Todes vervollständigt wurden, wobei gewöhnlich eine kleine Vorrede vorausgeschickt wurde, worin Stand, Amt und die Lebensweise des Martyrers beschrieben wurden, wie wir aus 18 von Ruinart mitgetheilten Acten dieser Klasse deutlich ersehen.
Die zweite Klasse begreift jene Verhandlungen in sich, welche von den Martyrern selbst im Kerker aufgezeichnet wurden. Hinsichtlich ihrer Autorität stehen sie auf einer Linie mit den Urkunden der ersten Klasse; wir besitzen jedoch wenige, und diese sind durch Andere vervollständigt, vielleicht auch durch einige Zusätze vermehrt worden. Acten der hhl. Perpetua und Felicitas, der hhl. Montanus und Flavianus, zu denen noch die Briefe des hl. Dionysius von Alexandria an den Bischof Fabian von Antiochia gerechnet werden können.
Zur dritten Klasse gehören die Urkunden oder Geschichten, welche von den
Zeugen des gerichtlichen Verhöres oder den Umstehenden und Zuschauern des
Bekenntnisses und des Todes nach Beendigung des Kampfes aufgezeichnet wurden,
und diese enthalten oft die kleinsten Umstände, die in die gerichtlichen
Protokolle nicht eingezeichnet wurden. Hieher sind zu rechnen die
Leidensgeschichte des hl. Bischofs und Martyrers Cyprian,
von seinem Diakon Pontius verfaßt, und die
Leidensgeschichte der hl. Febronia, von ihrer
Vorsteherin Thomais geschrieben. In Ruinart's Sammlung zählt man zwölf
Martyrergeschichten dieser Klasse.
Die vierte Klasse von Acten bilden jene, welche erst später verfaßt wurden.
Bei dem größten Sturme der Verfolgung, der gewöhnlich die Bischöfe und Priester
zuerst traf, ließen sich nicht immer die einzelnen Leidensgeschichten und das,
was sich ereignet hatte, aufzeichnen. Erst bei eingetretenem Stillstande fing
man an, aus den noch übrig gebliebenen Fragmenten der gerichtlichen Urkunden,
oder aus dem, was man von bewährten und glaubhaften Männern gehört hatte, eine
kurze Darstellung zu entwerfen, oder das schriftlich aufzuzeichnen, was
allgemein bekannt war. Leicht ist es in dieser Art Acten zu erkennen, was aus
den gerichtlichen Protokollen ausgehoben worden ist. Hieher gehören die Acten
der hl. Symphorosa und ihrer Söhne, wo
der Verfasser am Schlusse sagt: »Hierauf ruhte die Verfolgung ein Jahr und sechs
Monate, in welchem Zeitraume die heiligen Leiber aller Martyrer verehrt wurden.«
In der Sammlung Ruinart's finden sich 25 Acten dieser Klasse.
Endlich kommt noch eine fünfte Klasse zu erwähnen. Bekanntlich wurden viele Christen in den ersten Zeiten ohne besonderes gerichtliches Verhör sogleich nach dem Bekenntnisse hingerichtet. Davon hatte man keine gerichtlichen Acten. Von andern hhl. Martyrern sind die Acten verloren gegangen. Das Andenken dieser hhl. Martyrer bewahrten uns mit einigen Umständen ihres Martyrertodes theils die Reden oder HomilienEine Homilie (von griech.„ὁμιλεῖν”, „vertraut miteinander reden”) ist eine Art von Predigt. Während eine Predigt die Großtaten Gottes preist (lat. „praedicare”, „preisen”) und Menschen für den Glauben begeistern will, hat die Homilie lehrhaften Charakter. der hhl. Väter, theils einige auf solche Martyrer verfaßte Hymnen, sowie auch die Kirchengeschichtschreiber. Daß man sich auf diese schriftlichen Denkmale der Vorzeit verlassen kann, darüber dürfte um so weniger ein Zweifel bestehen, als weder die Einen noch die Andern in ihren öffentlichen Vorträgen oder in ihren Werken Thatsachen würden angeführt haben, die zweifelhaft schienen oder wovon sie nicht anderswoher ganz versichert waren. Dazu beziehen sich die hhl. Väter gar häufig auf die ihnen bekannten Acten, die aber für uns jetzt verloren gegangen sind, und ist es gewiß, daß z. B. der hl. Ambrosius und Prudentius im Besitze der Martyrer-Acten der hl. Agnes waren. Auch der Bischof Theodor von Ikonium spricht deutlich von den Acten der hhl. Cyricus und Julitta, die aber durch Märchen entstellt waren. Ruinart's Acten-Sammlung, auf die wir später zu sprechen kommen, besteht zur Hälfte aus Reden, Hymnen und Briefen der Kirchenväter über gewisse hhl. Martyrer.
11. Auch Bollandus unterscheidet (Praef. Tom. I. Jan.) unter den Acten der Heiligen überhaupt vier Klassen, die von verschiedener Autorität und Geltung sind.
Den ersten Rang nehmen nach ihm jene Lebensbeschreibungen der Heiligen ein, welche von Augenzeugen herrühren, wie z. B. das Leben des hl. Augustin, welches von seinem Schüler und Freunde Possidius verfaßt wurde. Die zweite Klasse begreift jene Lebensgeschichten in sich, welche solche zu Verfassern haben, die zwar nicht selbst mit den betreffenden Heiligen umgingen und Zeugen ihres Wandels und ihrer Thaten waren, die aber das, was sie niederschrieben, aus dem Munde glaubwürdiger Zeugen vernommen haben. Zu dieser Klasse gehört z. B. das Leben des hl. Franciscus, welches den hl. Bonaventura zum Verfasser hat, das des hl. Hilarion von Hieronymus und das der hl. Clara von einem Unbekannten, der jedoch in der Dedication an Papst Alexander IV. sagt, er habe sich mit den Jungfrauen zu Assisi, die mit der hl. Clara lebten, in Verbindung gesetzt und genau Alles aufgezeichnet, was er aus ihrem Munde über sie vernommen habe. »Es ist nicht erlaubt,« setzt er bei, »die Lebensgeschichte eines Menschen zu schreiben, es sei denn, man habe zuerst diejenigen vernommen, welche Augen- und Ohrenzeugen seiner Thaten gewesen.« Die dritte Stelle nehmen nach ihm diejenigen Lebensgeschichten ein, welche die Aussage derjenigen zur Grundlage haben, die es von Augen- und Ohrenzeugen gehört hatten. Dahin gehört Vieles, was in dem Buche »geistliche Wiese« von Johannes Moschus, in den Dialogen des hl. Gregor des Großen und in der englischen Geschichte von Beda enthalten ist. Endlich rechnet Bollandus zur vierten Klasse diejenigen Lebensgeschichten (Vitae) der Heiligen, welche in späterer Zeit verfaßt und aus bewährten Schriftstellern oder aus andern schriftlichen Denkmälern zusammengetragen worden sind. Die meisten der von ihm und seinen Nachfolgern in der Fortsetzung des großen Werkes, betitelt Acta Sanctorum, mitgetheilten Lebensbeschreibungen gehören dieser Klasse an.
Zu diesen vier Hauptklassen rechnet er noch zwei andere Klassen von geringerem Werthe, wovon die Eine solche Leben der Heiligen enthält, die in späterer Zeit aus dem Munde des Volkes niedergeschrieben wurden, und die Andere aber solche, in denen Wahres mit Falschem untereinander vermischt ist und gleichfalls von späteren Autoren herrührt. - Wenn auch den Lebensbeschreibungen der letztern zwei Klassen geringere Bedeutung zukommt, so glaubt Bollandus doch, daß sie um des Wahren willen, das sie enthalten, nicht ganz zu verwerfen sind.
12. Schon in den allerersten Zeiten der christlichen Kirche wurden die Acten einzelner Martyrer verfälscht, und besonders waren es die Häretiker, welche sich dieses Geschäft zur Aufgabe machten, neue Acten erdichteten und zur Verbreitung ihrer Irrlehre unter ihre Anhänger austheilten. Daher sahen sich die Kirchenvorsteher schon frühzeitig veranlaßt, dießbezüglich auf der Hut zu seyn und Vorkehrungen zu treffen, damit die Gläubigen nicht in den Irrthum geführt würden. So heißt es in einem Kanon eines römischen Concils, welches unter Papst Gelasius im Jahre 494 gehalten wurde (Decret. Grat. Pars I. dist. 15. can. 3. Sancta Romana), von den Büchern, die beim öffentlichen Gottesdienste gelesen werden sollen: »Item gesta sanctorum Martyrum, qui multiplicibus tormentorum cruciatibus et mirabilibus confessionum triumphis irradiant. Quis ita esse Catholicorum dubitet, et majora eos in agonibus fuisse perpessos, nec suis viribus, sed gratia Dei et adjutorio universa tolerasse. Sed ideo secundum antiquam consuetudinem singulari cautela in sancta Romana Ecclesia non leguntur, quia et eorum, qui conscripsere, nomina penitus ignorantur, et ab infidelibus aut idiotis superflua, aut minus apta, quam rei ordo fuerit, scripta esse putantur, sicut cujusdam Quirici et Julittae, sicut Georgii, aliorumque hujusmodi passiones, quae ab haereticis perhibentur compositae. Propter quod, ut dictum est, ne vel levis subsannandi oriretur occasio, in sancta Romana Ecclesia non leguntur. Nos tamen cum praedicta Ecclesia omnes Martyres et eorum gloriosos agones, qui Deo magis quam hominibus noti sunt, omni devotione veneramur.« - Der Kanon 63 der sechsten allgemeinen SynodeSynode (altgriech. für „Zusammenkunft”) bezeichnet eine Versammlung in kirchlichen Angelegenheiten. In der alten Kirche wurden „Konzil” und „Synode” synonym gebraucht. In der römisch-katholischen Kirche sind Synoden Bischofsversammlungen zu bestimmten Themen, aber mit geringerem Rang als Konzile. In evangelischen Kirchen werden nur die altkirchlichen Versammlungen als Konzile, die neuzeitlichen Versammlungen als Synode bezeichnet. schloß jene Gläubigen von der Kirchengemeinschaft aus, welche die von den Häretikern verfaßten unächten Martyrer-Geschichten lesen und annehmen würden. »Quae«, heißt dieser Kanon, »a veritatis hostibus falso confictae sunt Martyrum historiae, ut Dei Martyres ignominia afficerent et, qui eas audituri essent, ad infidelitatem deducerent, in Ecclesia non publicare jubemus, sed eos igni tradi: qui autem eos admittunt, vel tanquam veris his mentem adhibent, anathematizamus«. Aber zuweilen trieb auch ein unzeitiger Eifer oder eine gewisse Wundersucht selbst die rechtgläubigen Christen an, das Wahre mit dem Falschen zu vermischen und so der wahren Geschichte das ganze Ansehen zu entreißen. Dieser Fehler haftet besonders auf den spätern Zeiten, wie z. B. auf dem Mittelalter, wo man sich in der Kunst zu üben schien, Wunder auf Wunder zu häufen, und jene Acten gar nicht achtete, welche kein auffallendes Wunder enthielten. Von einigen Kritikern wird Simeon Metaphrastes, von dem später (Nr. 23) die Rede seyn wird, genannt, durch den viele Unrichtigkeiten und Uebertreibungen in die Lebensgeschichten der Heiligen gekommen seien; allein gewichtige Autoren, wie Leo Allatius, sprechen ihn von aller Schuld frei und weisen bezüglich dieser Fälschungen auf spätere Schriftsteller.
13. Um in den Martyrer-Acten das Rechte von dem Unrechten zu unterscheiden, stellen die Gelehrten einige Regeln auf, die hier in Kürze angegeben werden sollen:
1) Nach Baronius gilt als erste Regel: »Je einfacher und kürzer die Martyrer-Acten sind, desto mehr haben sie Glaubwürdigkeit und Werth.« Dieß hat jedoch nur Bezug auf die richterlichen oder proconsularischen Acten; denn wollte man diese Regel mit Tillemont auf alle Martyrer-Acten anwenden, so würden wohl wenig ächte Geschichten übrig bleiben. Uebrigens versteht sich diese Regel in Bezug auf die Genannten von selbst. Die Richter machten bei den einzelnen Verhören der Martyrer nicht viel Umstände, stellten in der Regel sehr kurze Fragen, worauf eben so kurze Antworten erfolgten, ließen die Christen selten viel reden, und wenn sie dieß aus Nachgiebigkeit erlaubten, so nahmen sie doch die längeren Reden nicht in die Protokolle auf. Längere Reden und eine einläßlichere Darstellung der Vorgänge finden sich nur in jenen Acten, welche von Christen als Zuschauern oder Zeugen verfaßt wurden, wie in der Martyrergeschichte des hl. Pionius.
2) Wenn gleich im Anfange eines Actes die Regierungsepoche der Consuln oder Kaiser genannt wird, so ist sicher anzunehmen, daß man es mit einem gerichtlich verfaßten Acte zu thun habe. So z. B. fangen die Acta proconsularia des hl. Cyprian mit den Worten an: Imperatore Valeriano quartum et Gallieno tertium Consulibus, tertio Kalendarum Septembrium …; die des hl. Speratus und seiner Genossen: Existente Claudio Consule quarto decimo Kalendas Augustas … In den Acten zweiter und dritter Klasse kommt die Regierungsperiode seltener gleich am Anfange vor.
3) Deßgleichen liegt ein proconsularischer Martyrer-Act vor, wenn in demselben kein Wunder verzeichnet ist. Die Verfolger und Richter nahmen die Wunder als Wirkungen geheimer Zauberei nicht in ihre Protokolle auf, während diese in den Acten zweiter und dritter Klasse, weil zum Plane des Verfassers passend, umständlicher erzählt werden. Durch diese Wunder wurde Gottes Macht verherrlicht, die Wahrheit der Religion bestätigt, der Muth der Martyrer gestärkt, der Gläubige in der Religion befestigt und zur Verachtung der Peinen angefeuert, und der Heide zur Annahme des Christenthums bewogen. Je stärker die Verfolgung und je schwächer der Verfolgte war, desto mehr Wunder wirkte oft die göttliche Allmacht. Daher sind die vielen in den Acten bisweilen vorkommenden Wunder keineswegs als ein Zeichen der Unterschiebung anzusehen, vielmehr beweisen sie, wie dieß Honoratus a S. Maria (l. c.) gegen Tillemont darthut, die Aechtheit der Acten, da Gott bei seinen treuen Bekennern oft verschwenderisch in Wundern war.
4) Eine weitere Regel ist: »Allzugroße Zierlichkeit im Styl, gezwungene Eleganz und überhäufte Bibeltexte machen die Acten sehr verdächtig.« Der hl. Geist, der nach der Lehre Jesu Christi den Martyrern das Wort in den Mund legte, liebt die Einfalt und drückt sich nicht in künstlich überredenden Worten menschlicher Weisheit, sondern in Erweisung des Geistes und der Kraft aus, damit der Glaube sich nicht auf Menschenweisheit, sondern auf die Kraft Gottes gründe (I. Kor. 2, 4). Noch vielweniger warfen die hhl. Martyrer die »Perle den Schweinen« vor; nur herrscht in dieser Beziehung bei einzelnen Verfolgungen der besondern dabei obwaltenden Umstände wegen eine Ausnahme. Denn die unter Diokletian besonders gegen die heil. Bücher gerichtete Verfolgung gab mehreren Martyrern Veranlassung, von den heiligen Schriften zu reden, ihre Göttlichkeit und Heiligkeit hervorzuheben und aus denselben einige Texte anzugeben, wie wir dieß aus den Acten des hl. Bischofs Philippus zu Heraklea und der hhl. Jungfrauen Irene, Agape und Chionia ersehen.
5) Die Namen der Kaiser, Consuln und Landpfleger sind besonders scharf in's Auge zu fassen und mit der Zeit und dem Orte der Verfolgung genauest zu vergleichen, indem hier die Kritik nicht selten denfein angelegten Betrug der Verfälscher entdecken kann. Indeß kann man hier die Vorsicht auch zu weit treiben, wie dieß der öfter genannte Tillemont gethan, der alle Acten als unächt verwirft, in welchen von einem Verfolgungsedict Trajans, des Antoninus und Marcus Aurelius Erwähnung geschieht, weil diese Kaiser kein Edict wider die Christen erlassen haben. Allein obschon diese Kaiser kein allgemeines Edict erließen, wie Eusebius l. c. lib. V. cap. 1 schreibt, so ist es doch selbst aus mehreren von Tillemont als ächt anerkannten Acten gewiß, daß sie den Landpflegern oder Statthaltern einzelne Verfolgungsbefehle zuschickten. Von Trajan bezeugt es unter Anderm der berühmte Brief des jüngern Plinius an diesen Kaiser und die Martyrergeschichte des hl. Ignatius; von Antonin berichtet selbst der Präfect in den Acten der hl. Felicitas: »Unser Herr, der Kaiser Antonin, befahl, ihr sollet den allmächtigen Göttern opfern;« und von Marcus Aurelius' Regierung wissen wir aus der Kirchengeschichte des Eusebius (lib. 4. cap. 26), daß unter ihr eine Verfolgung besonders in Asien gewüthet habe. - In einigen Acten werden allerdings die beiden Verfolger Decius und Valerianus zusammen aufgeführt, und könnte dieß über deren Aechtheit Verdacht erregen, weil diese zwei Tyrannen nicht zusammen regiert haben; allein es kommt zu erwägen, daß in den betreffenden Acten eine vereinte Regierung dieser Kaiser mit keinem Worte angedeutet wird, sondern weil beide Verfolgungen schnell aufeinander folgten und die betreffenden Martyrer in beiden Verfolgungen litten, so konnte der Verfasser dieser Acten der Kürze halber das miteinander verbinden, was an sich getrennt war. So z. B. sagt der hl. Hieronymus in dem Leben des hl. Eremiten Paulus: »sub Decio et Valeriano persecutoribus.« Auf den ersten Blick möchte man diese Vita des hl. Paulus beanstanden, weil die beiden Verfolger Decius und Valerian gleichzeitig genommen werden; allein es kommt zu bemerken, daß Decius während seines Zuges nach Persien oder gegen die Gothen den Valerian als seinen Stellvertreter zu Rom zurückgelassen hat, der nach dem Beispiele seines Herrn die Christen hinrichten ließ. Nach Baronius, der dem Trebellius folgt, wurde Valerian vom Senat als Bevollmächtigter des Decius während dessen Abwesenheit ernannt.
14. Endlich wollen wir noch den Gebrauch angeben, welchen die Kirche und ihre Gläubigen von den Acten der Martyrer und Heiligen machten. Den Tag, an welchem ein Martyrer seinen Kampf glücklich bestand und sein Leben für den Glauben an Jesus dahingab, sahen die Gläubigen als den glücklichsten, als den Anfang des wahren Lebens an. Bonum est, schrieb der hl. Martyrer Ignatius, a mundo ad Deum occidere, ut in ipso oriar, oder wie die alte Leseart hat: Bonum est proficisci a mundo ad Deum, ut in ipso exoriar. Sie feierten aus dieser Ursache auch nie den Geburtstag, sondern den Sterbetag, weil dieser das Ende der zeitlichen Schicksale und Versuchungen und der Anfang des ewigen Lebens war. »Wir feiern nicht,« sagt der unbekannte Verfasser des III. Buches der Commentare über Job, »den Tag der Geburt, weil er der Anfang aller Schmerzen und Versuchungen ist, sondern wir feiern den Tag des Todes, da an ihm alle Schmerzen aufhören und man an ihm allen Versuchungen auf immer entgeht. Auch feiern wir deßhalb den Todestag, weil diejenigen nicht sterben, welche dem Tode zu erliegen scheinen.« Den Sterbetag eines Heiligen nannte man deßhalb den Geburtstag (dies natalis), weil er an diesem Tage dem Himmel geboren worden. Anton Pagi, der kritische Bemerkungen zu den Annalen des Cäsar Baronius herausgab, ist indeß der Meinung, die Kirche feiere durchgehends die Feste der Martyrer an einem andern Tage, als an welchem sie gelitten hätten. Nach dieser Ansicht bedeuten die Natalitia nicht die eigentlichen Sterbetage, sondern nur die Tage, an welchen die Feste der Martyrer begangen werden. Pagi gibt als Grund seiner Meinung an, weil man in den Zeiten der Verfolgung die eigentlichen Sterbetage nicht genau hätte in Erfahrung bringen können, oder weil die Tage, an welchen die Reliquien erhoben wurden, berühmter waren als die Sterbetage. Allein es liegen zu viele Zeugnisse vor, aus denen hervorgeht, wie die Gläubigen mit allem Eifer den Todestag eines Martyrers zu ermitteln suchten, um denselben jährlich begehen zu können, als daß man nur einen Augenblick der Ansicht des Pagi beistimmen könnte. Die Erhebungen und Versetzungen der heil. Reliquien nahmen erst unter Constantin dem Großen ihren Anfang, wie Paulinus in dem XI. Gedichte bezeugt:
Ut Constantino primum sub Caesare factum est,
Tunc famulis retegente suis, ut sede priori
Martyris accitos transferrent in nova terrae Hospitia …
Die römischen Gesetze erlaubten nämlich nicht, die Gräber zu öffnen und die Gebeine der Verstorbenen herauszunehmen. Als aber unter Constantin das Heidenthum durch den christlichen Glauben verdrängt wurde, fing man an, die Kämpfer dieses Glaubens durch Verehrung ihrer Gebeine zu erheben und dieselben als die kostbarsten Schätze zu versetzen, entweder um den Kranken und Presthaften durch die Fürbitte der Heiligen, deren Reliquien versetzt wurden, beizustehen, oder um die Verehrung dadurch zu erhöhen, oder aus mehreren andern Ursachen. 6
15. Was nun die Feier an diesen Sterbetagen der Martyrer und Heiligen betrifft, so bestand sie vornehmlich in der Darbringung des hl. Meßopfers über dem Grabe des Martyrers und in der Ablesung der Acten der Martyrer, damit an ihrem Jahrtage zugleich ihre Thaten in's Gedächtniß gerufen wurden. Es war nämlich, sagt Ruinart, ein uraltes Herkommen in der kathol. Kirche, die Thaten derjenigen Martyrer, deren Feste eben gefeiert wurden, in den Versammlungen vorzulesen. In der afrikanischen Kirche war diese Sitte allgemein durch eine Conciliarverordnung angenommen (can. 46. bei Labbeus Tom. 2. Concil.), weßhalb sich der hl. Augustin in seinen Reden oft auf die vorgelesenen Acten bezieht. Dieser Concilienbeschluß fand Beifall beim Papst Hadrian, der in seinem Briefe an Karl den Großen ihn besonders hervorhebt wider die Einwendungen, welche gegen die 7. Generalsynode vorgebracht wurden. Auch in der fränkischen Kirche war diese Uebung, an den Festen der Martyrer die Acten vorzulesen, wie dieß aus der 95. Rede des hl. Cäsarius von Arles hervorgeht, worin sich der hl. Bischof beklagt, daß, während er doch nur den Kränklichen oder mit andern Leiden Behafteten den Rath gegeben habe, beim Ablesen längerer Leidensgeschichten oder größerer Lesestücke (quando aut Passiones prolixae aut aliae Lectiones prolixiores legerentur) sich niederzusetzen, doch einige aus den Töchtern, die ganz gesund seien, dasselbe zu thun wagten. Nach dem hl. Bischof Avitus von Vienne in dem auf uns gekommenen Fragmente einer HomilieEine Homilie (von griech.„ὁμιλεῖν”, „vertraut miteinander reden”) ist eine Art von Predigt. Während eine Predigt die Großtaten Gottes preist (lat. „praedicare”, „preisen”) und Menschen für den Glauben begeistern will, hat die Homilie lehrhaften Charakter. wurde »aus Pflicht der Gewohnheit« (ex consuetudinis debito) das Leiden derMartyrer von Agaunum vorgelesen, und finden sich in der von Mabillon herausgegebenen altgallischen Liturgie einige Martyrer-Acten eingestreut. Dasselbe sagt mit ausdrücklichen Worten Hilduin in seinem den Areopagiticis vorgedruckten Briefe an Ludwig den Frommen, wo er die uralten Missalbücher anpreist, welche die Meßordnung nach fränkischer Weise enthalten, wie sie seit Einführung des Christenthums in Gallien bestanden. Er schreibt: »In diesen Büchern finden sich zwei Messen vom hl. Dionysius, welche unter der hl. Handlung die Leiden des hl. Martyrers und seiner Gefährten kurz anführen, ganz nach dem Beispiele der übrigen darin enthaltenen Meßformularien auf die hhl. Apostel und andere Martyrer, deren Leiden sie gleichfalls enthalten.« Dieselbe Sitte finden wir auch in den spanischen Kirchen, wie dieß nicht nur aus ihren liturgischen Büchern hervorgeht, sondern auch aus einer Aeußerung des Bischofs Braulo von Saragossa in der Vorrede zum Leben des hl. Aemilian, wo er sagt, er habe dieses Leben geschrieben, damit man es bei der Feier der hl. Messe lesen könne, so oft man wolle. Nicht minder war diese Sitte auch in den Klöstern herrschend, wie dieß die Klosterregeln einiger Väter bezeugen. Der Bischof Aurelian von Arles verordnete, daß an den Festen der hhl. Martyrer drei oder vier Missae (d. h. nach ihm Lectiones) stattfinden sollen, davon Eine aus dem Evangelium genommen werden soll, die übrigen aber aus den Leidensgeschichten der hhl. Martyrer. Dasselbe verordnete der hl. Cäsarius in der Klosterregel für Jungfrauen (vgl. Boll. Tom. I. 12. Jan. Nr. 69). Doch fand dieser Gebrauch Mißbilligung von Bischof Agobard von Lyon im 9. Jahrhundert, indem er fest darauf bestand, daß in Officio divino keine andern Lectionen gelesen werden sollen, als die aus den kanonischen Büchern entnommen sind. Ebenso haben wir aus dem oben angeführten Decret eines römischen Concils unter Gelasius ersehen, daß in der römischen Kirche die Lesung der Martyrer-Acten in den öffentlichen Versammlungen nicht gestattet war. Doch hat bezüglich dieses Kanons Mabillon in seiner Disquisit. de Cursu Gallicano § 1 nachgewiesen, dieses Verbot erstrecke sich nur auf die Laterankirche zu Rom und gelte einzig von jenen Martyrer-Acten, deren Verfasser nicht bekannt waren. Daß übrigens selbst in der römischen Kirche die Uebung bestand, während des öffentlichen Gottesdienstes die Vitas Sanctorum vorzulesen, geht aus dem schon bemerkten Briefe Hadrians an Karl den Großen hervor, wo es heißt: Vitae Patrum sine probabilibus auctoribus minime in Ecclesia leguntur. Nam ab Orthodoxis titulatae et suscipiuntur et leguntur. Dasselbe ersehen wir auch aus der Vorrede des Diakons Johannes zum Leben des hl. Gregor des Großen an Papst Johann VIII. Dieser Gebrauch der Martyrer-Acten, sowie der übrigen Heiligen, findet sich somit in allen alten Liturgien, der Gallicanischen, Mozarabischen und auch Gregorianischen Liturgie, wie dieß auch aus dem ersichtlich ist, daß die Contestationen oder Präfationen in der Messe die vorzüglichsten Thaten und Martyrergeschichten der hhl. Blutzeugen enthielten. Weil jedoch in derlei Contestationen oder ächten Acten die herrlichen Thaten der hhl. Martyrer meistens so gelesen wurden, daß sie vom Volke nicht leicht verstanden werden konnten, pflegten die Bischöfe an den Festtagen der Martyrer deren Tugenden und Großthaten dem Volke nach dessen Fassungskraft zu erklären, woher sich die Uebung schreibt, auf die hhl. Martyrer Lobreden zu halten, von denen sehr viele auf uns gekommen sind.
16. Aber nicht blos in den öffentlichen Versammlungen und während des Gottesdienstes wurden die Martyrer-Acten und die Lebensgeschichten heiliger von Gott verherrlichter Männer vorgelesen, sondern die Gläubigen pflegten dieselben auch privatim für sich zu benützen und bewiesen darin einen sehr großen Eifer. Diese Lectüre empfahl der hl. Nilus, ein Jünger des hl. Chrysostomus, sehr eindringlich seinem Schüler, dessen Namen nicht näher genannt wird, und Cassiodor erklärte in seinem Werke de Institutione divinarum litterarum cap. 32, es gäbe nichts Nützlicheres und Ersprießlicheres für die Besorgung des Seelenheiles, als die Lesung dieser Acten und Geschichten. Wilhelm, Abt von St. Theodoric, schreibt in seinem Tractat an die Brüder zu Mont-Dieu (de Monte Dei) vor, es seien den Novizen die Thaten und Leiden der Martyrer in die Hände zu geben, weil in diesen Geschichten gar Vieles enthalten sei, wodurch das Gemüth zur Liebe Gottes und Verachtung seiner selbst entflammt werde. Der hl. Stephan, der Gründer der Mönche von Granmont (Grandimontensium), las, während seine Brüder beim Tische sich erquickten, ihnen im Refectorium auf der Erde sitzend die Leidensgeschichten der Heiligen vor. Ja so groß war die Liebe einiger hhl. Männer gegen diese Art schriftlicher Denkmäler, daß sie immer und selbst auch auf Reisen die Lebensgeschichten der Heiligen bei sich trugen, wie wir dieß vom hl. Sigirannus und vom hl. Bischof und Martyrer Bonifacius, dem Apostel Deutschlands, wissen, und zweifelsohne ist es diese Lectüre, wodurch sich der Letzterer zur Ertragung des Martyrtodes vorbereitete. Wunderbar ist es, was wir vom hl. Anastasius, einem Martyrer aus Persien, in seinen von der 7. Generalsynode approbirten Acten lesen, daß er nämlich, während er die Kämpfe und Siege der Martyrer gelesen, die Bücher mit Thränen benetzt und sehnlichst gewünscht habe, auch solche Leiden für Christus erdulden zu können, weßwegen er denn auch fast alle seine Zeit auf das Lesen der Martyrergeschichten verwendet habe. Dasselbe erzählt Ulsinus Boëtius im Leben des hl. Junianus, Abtes von Mariacy (Mariacensis). Er sagt von ihm, daß er neben den apostolischen Schriften auch häufig das Leben und Leiden der hhl. Väter, Martyrer und Jungfrauen gelesen, durch ihre Beispiele seinen Geist immer bewaffnet und dieselben nachzuahmen gesucht habe. Daher, meint Ruinart, sei der Gebrauch entstanden, die Heiligen Gottes abzubilden, damit nach der Aeußerung der hhl. Väter die gemeinen und des Lesens unkundigen Leute solch' herrlicher Beispiele nicht verlustig gingen. Es ließen sich noch viele Beispiele aus der Kirchengeschichte anführen, die alle einen wunderbaren Eifer für die Lectüre der Martyrer-Acten und Lebensgeschichten der Heiligen Gottes an den Tag legten, wie z. B. die hl. Theresia etc.; aber das Angeführte genüge, und wir fügen nur noch an, was Jos. Scaliger, ein berühmter calvinistischer Schriftsteller, von den Acten einiger Martyrer der ersten Kirche spricht. Er schreibt in seinen Bemerkungen zu der Geschichte des Eusebius zum J. 478: »Das Lesen dieser (Acten) macht auf fromme Seelen einen solchen Eindruck, daß sie das Buch nie ohne Wehmuth weglegen. Jeder kann sich hievon durch eigene Erfahrung überzeugen. Was mich betrifft, so gestehe ich hier ein, daß nichts in der ganzen Kirchengeschichte mich so sehr rührt. Wenn ich diese Acten lese, komme ich ganz außer mir selbst.« 7
=> II. Von den verschiedenen Sammlungen der Acten der Martyrer und anderer Heiligen
1 ▲ Bei der Darstellung dieses Gegenstandes sind wir vorzüglich der gediegenen Abhandlung Binterim's gefolgt (Bd. V. Abth. 1), die Alles enthält, was bei Ruinart, Bollandus und Anderen zerstreut sich vorfindet.
2 ▲ »Spiritu Sancto duce martyria probabat«, heißt es bei Saussay in der Einleitung zum französischen Martyrologium. - Wir führen diese Stelle an, um erkennen zu lassen, wie die heutige Art und Weise der Heiligsprechung dem Wesen nach schon im höchsten Alterthume vorhanden war. Wahrscheinlich hatte diese Approbation der Martergeschichte durch den Papst die Folge, daß der betreffende hl. Martyrer öffentlich verehrt werden durfte.
3 ▲ Ueber die gegenwärtige Art und Weise der kirchlichen Heiligsprechung werden wir in einem folgenden Bande das Wesentlichste angeben.
4 ▲ »Probabile satis est ad gloriam Vincentii Martyris, quod descriptis passionis ejus gestis titulum invidit inimicus. Unde reddimus fide plena relationem gestorum, quae litterarum apicibus annotari judex non immerito noluit, quia victum se erubescebat audiri. Naturalis siquidem providentia est male errantium, auferre de medio testimonium probitatis.« Bolland. Acta Sanctorum. Tom. II. Januarii, de S. Vincentio Mart.
5 ▲ Dissertat. de Actis Martyrum Tom. I. Animadvers. in regul. et usum critices.
6 ▲ Dergleichen Translationen kommen besonders unter den fränkischen Königen in großer Zahl vor, und man hat Ursache zu zweifeln, ob vor der fränkischen Epoche ein Translationsfest in der lateinischen Kirche war. Von dieser Zeit fing man auch an, für diese Tage der Uebertragung besondere Feste unter der Benennung Elevatio oder Translatio anzuordnen, weil Gott bei den feierlichen Erhebungen der Gebeine die Heiligen öfters durch viele Wunder verherrlicht hat.
7 ▲ Horum (sc. Actorum) lectione piorum animus ita afficitur, ut nunquam satur inde recedat. Quod quidem ita esse unusquisque pro captu suo et conscientiae modo sentire potest. Certe ego nihil unquam in historia ecclesiastica vidi, a eujus lectione commotior recedam, ut non amplius meus esse videar.